Özgür Politika, 17. Januar 2002

An der Seite ihrer Kinder

Die Eltern der Studierenden, die aufgrund der Forderung nach Kurdisch-Unterricht in Van verhaftet worden sind, haben öffentlich erklärt, dass sie "bis zum Ende an der Seite" ihrer Kinder stehen. Auch in Istanbul und Adana sind die Aktivitäten der Erziehungsberechtigten fortgesetzt worden.

MHA / VAN / ISTANBUL / ADANA

Die Eltern der 13 verhafteten StudentInnen, die gemeinsam mit 813 weiteren KomilitonInnen an der 100.Yil-Universität Van einen Antrag auf die Einführung von Kurdisch als Wahlfach gestellt und aufgrund dessen festgenommen worden waren, haben gestern im IHD Van eine Pressekonferenz durchgeführt, an der sich ausserdem weitere Studierende, VertreterInnen demokratischer Massenorganisationen sowie Provinz- und Stadtratsmitglieder beteiligten. Im Namen der Erziehungsberechtigten verlas Oguz Gayriamal eine Erklärung, in der er die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht als legitim und menschlich bezeichnete. Ihre Kinder seien festgenommen und misshandelt worden, weil sie einen Antrag eingereicht hätten, so Gayriamal. Als ob dies nicht ausreiche, sei die Gewalt mit der Verhaftung von 13 Personen auf die Spitze getrieben worden. "Unsere Kinder haben lediglich ihre eigene Muttersprache gefordert. Dabei handelt es sich um eine natürliche und menschliche Forderung. Es ist primitiv und unsinnig, das anders aufzufassen und eine Verbindung zu anderen Einrichtungen und Organisationen herzustellen. Unsere Kinder haben für die Demokratisierung der Türkei das unschuldige und legitime Recht auf Antragstellung angewandt. Wir können die Mentalität nicht begreifen, mit der diese natürliche Forderung als Verbrechen angesehen und unsere Kinder ins Gefängnis gesteckt werden. Wir fordern Richter und Staat zur Aufrichtigkeit auf. Unsere Kinder unterstützen wir bis ins Letzte. Alle Intellektuellen, Demokraten, Schriftsteller, Einrichtungen und Institutionen fordern wir zur Aufmerksamkeit auf."

AKTION AN GRUNDSCHULE

Eine weitere Aktion in Van ist von GrundschülerInnen durchgeführt worden. Über hundert SchülerInnen setzten sich unter der Parole "Em zimane xwe dixwazin" (Wir wollen unsere Sprache) zu einer Demonstration in Bewegung. Auch von ihren LehrerInnen liessen sie sich nicht aufhalten. (...)

PARAGRAPH 42

In einer Presseerklärung der Anwaltskammer Van wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich bei der Behandlung der Anträge auf muttersprachlichen Unterricht als ein strafrechtliches Beweismittel um ein nicht-juristisches Vorgehen handele. Weiter wird betont, dass in der Türkei mehr als eine Sprache, Religion und Kultur existieren. "Es ist Aufgabe des Staates, für alle in der Türkei lebenden Menschen gleiche Rechte und Möglichkeiten zu schaffen. Aus diesem Grund betrachten wird Paragraph 42 der Verfassung als im Widerspruch stehend zu der Realität der Türkei und universellen Menschenrechtsnormen. Es ist notwendig, diesen Artikel entsprechend der Realität dieses Landes zu ändern." (...)

ELTERN IN ISTANBUL

Auch in Istanbul und Adana standen die Forderungen nach muttersprachlichem Unterricht der Erziehungsberechtigten auf der Tagesordnung. In mehrereren Stadtteilen Istanbul reichten Eltern für ihre Kinder Anträge bei der Erziehungsbehörde ein. So kamen in Kagithane 50 Erziehungsberechtigte zusammen, die ohne Probleme ihre Anträge abgeben konnten. In Gaziosmanpasa dagegen nahm der zuständige Beamte die Anträge von 40 Erziehungsberechtigten nicht an, bedrohte stattdessen die Anwesenden und erklärte: "Wir leben in der Türkei. Ausser türkisch kann keine andere Sprache benutzt werden. Wo habt ihr das denn her?" In Bagcilar wurden 100 Eltern festgenommen, nachdem die Erziehungsbehörde die Polizei alarmiert hatte. (...) In Ümraniye wurden ca. 30 Anträge zurückgewiesen. Die Eltern wurden aufgefordert, diese beim Gouverneur oder der Polizei einzureichen.

FESTNAHMEN IN ADANA

16 Erziehungsberechtigte, die vorgestern in Adana bei der Antragstellung festgenommen worden sind, werden nach wie vor bei der Polizei verhört. (...)
118 Erziehungsberechtigte, die am 4. Januar in Adana-Seyhan Anträge gestellt hatten, haben eine Vorladung zur Aussage vom Staatssicherheitsgericht (DGM) erhalten. (...)
Von 70 Erziehungsberechtigten, die in Adana-Ceyhan Anträge an die Leitung der Fehmi-Koc-Grundschule gestellt haben, sind zwei festgenommen worden. Die Anträge wurden nicht angenommen. (...)

BETEILIGUNG DAUERT UNUNTERBROCHEN AN

Die Unterstützung der Muttersprachen-Kampagne wächst ununterbrochen weiter an. An der Universität von Balikesir wurden 163 Anträge bei der Universitätsleitung eingereicht. Mit der Begründung, es handele sich nicht um Einzelanträge, wurden diese zurückgewiesen.

An der Universität Istanbul wurden aus Solidarität mit den aufgrund ihrer Beteiligung an der Kampagne Verhafteten Nelken niedergelegt. Vor der juristischen Fakultät versammelten sich ca. 100 Studierende, die unter Parolenrufen ("Weg mit dem rassistischen Rektor", "Die Repression kann uns nicht einschüchtern") zur Universitätsleitung marschierten. Dort führten sie einen Sitzprotest durch. (...)

Eine weitere Gruppe von 150 Studierenden der Istanbul-Universität veranstaltete aus Protest gegen die Verhaftungen ein Forum. Sie versammelten sich vor dem Sitz des Rektors und riefen die Parolen: "Biji Azadiya Kurdi", "Biji Biratiya Gelan", "Verhöre, Verhaftungen, Repression können uns nicht einschüchtern" und "Wir wollen keine F-Typ-Uni". In Anlehnung an die Bemerkung des Rektors der Istanbul-Universität, "Es hat in der Vergangenheit keine kurdische Ausbildung gegeben, es gibt sie heute nicht und es wird sie auch in Zukunft nicht geben", erklärten sie: "Uns hat es gestern gegeben, es gibt uns heute und es wird uns auch morgen geben."

An der Atatürk-Universität Erzurum werden patriotisch-demokratische Studierende seit zwei Wochen von Personen unter Druck gesetzt, die sich selbst als "Ülkücü" [wörtlich: Idealisten, MHP-nahestehende Faschisten] bezeichnen. Die StudentInnen gaben eine Erklärung ab, in der sie mitteilten, sie werden mit dem Tode bedroht. (...)

PROTESTE UND DEMONSTRATIONEN

In Adana und Batman ist mit nächtlichen Aktionen gegen die Repression im Zusammenhang mit der Muttersprachen-Kampagne protestiert worden. In Batman kamen ca. 50 Jugendliche zusammen, die Feuer anzündeten, Halay tanzten und sich später unter Parolenrufen zu einem Demonstrationszug in Bewegung setzten. Unterstützt wurden sie mit Beifall und Parolenrufen von den AnwohnerInnen. In Adana führte eine Gruppe mit dem Namen "Demokratische Volksinitiative" eine Demonstration durch. (...)

SIE DIND DOCH JURA-PROFESSOR...

Justizminister Türk ist daran erinnert worden, dass er selbst Jura-Professor ist, als er den Staatsterror gegen das Recht auf muttersprachlichen Unterricht mit der Politisierung der PKK verteidigt hat.
Während eines Essens, dass Türk für Redaktionsleiter und Zeitungs-Kommentatoren in Istanbul gegeben hat, um die Öffentlichkeit, die sich durch den Lösungsvorschlag der Anwaltskammern im Todesfasten gebildet hat, ins Gegenteil umzuwenden, haben vier Stunden lang interessante Diskussionen stattgefunden. Als erster ergriff Kürsat Bumin von der Zeitung Yeni Safak das Wort und fragte den Justizminister nach einer am 11. Januar in der Zeitung Zaman erschienenen Meldung mit der Überschrift "Antragsteller auf Kurdisch-Unterricht werden vor dem Staatssicherheitsgericht verurteilt". In der Meldung hatte es geheissen, das Justizministerium habe aufgrund eines Berichtes des Innenministeriums ein Schreiben an die Staatsanwaltschaften geschickt, in dem diese dazu aufgefordert werden, gegen einen Antrag auf Kurdisch-Unterricht stellenden Studierende Prozesse wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung am Staatssicherheitsgericht anzustrengen. Türk gab zur Antwort: "Es handelt sich dabei um die Politisierung der PKK. Das ist kein Thema, demgegenüber die Türkei gleichgültig bleiben kann." Daraufhin entgegnete Kürsat Bumin: "Sie sind Jura-Professor. Ihre Antwort hat mich enttäuscht."