Özgür Politika, 7.12.2001

Keinen Schritt zurück

Interview mit PKK-Präsidialratsmitglied Cemil Bayik von NURDOGAN AYDOGAN

Frage: Vor kurzem sind die Feiern zum 23. Jahrestag der Parteigründung begangen worden. Unter welchen Bedingungen haben die Feiern stattgefunden?

CB: Die Jahrestagfeiern haben in einer Atmosphäre stattgefunden, die von intensiven politischen, militärischen, wirtschaftlichen und diplomatischen Entwicklungen geprägt ist: der als dritter Weltkrieg bezeichnete Krieg in Afghanistan unter Führung der USA, dort das Erreichen einer bestimmten Etappe, die beschleunigten Bemühungen, auf der Grundlage der Resultate von Afghanistan den Krieg auf den Mittleren Osten auszuweiten, die Angriffe auf demokratische und sozialistische Kräfte unter dem Deckmantel des "Antiterrorkampfes", die Bestrebungen, demokratische Rechte und Regeln unter eben diesem Vorwand zu beschneiden. Trotzdem sind unser Volk und unsere Partei gerüsteter und gestärkter als jedes andere Volk und jede andere Partei ins 21. Jahrhundert getreten, indem mit dem vom Vorsitzenden APO entwickelten "Manifest der demokratischen Zivilisation" der internationale Komplott ins Leere geführt worden ist. Unsere Partei hat auf der Grundlage der Analysen des Vorsitzenden APOs eine Reihe von Konferenzen und Versammlungen durchgeführt und ist erneuert und gestärkt in eine neue Phase getreten. In der Türkei und Kurdistan ist die 2. Friedensoffensive begonnen worden. (...) In dieser Phase hat sich herausgestellt, dass unser Volk dadurch ein starkes Bewusstsein entwickelt hat, seine Kenntnisse erweitert hat, seine Organisiertheit und Einheit zugenommen haben, es in Bewegung gekommen und zu einer Kraft geworden ist. In vielen Bereichen, wo keinerlei Organisation und Kader vorhanden waren, hat das Volk selbst die Verantwortung übernommen, Aktionen organisiert und in die Praxis umgesetzt. Unserer Partei hat es viel Kraft gegeben, dass das Volk seine konstruktive Wesensart auf diese Weise gezeigt hat.

Frage: Was ist Ihrer Meinung nach der Unterschied zwischen den diesjährigen und vorherigen Feiern?

CB: Die Feiern wurden mit einem Bewusstsein, einer Organisiertheit und Aktivität verwirklicht, die nicht mit den Vorjahren vergleichbar sind. Damit wurde allen für Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit kämpfenden Kräften Moral, Begeisterung, Hoffnung und Kraft gegeben. Unser Vorsitzender, unser Volk und unsere Partei wussten sich gegen die umfassenden Angriffe zu verteidigen und auf den Beinen zu halten. Die Angriffe wurden zurückgeschlagen und ins Leere geführt. Diese Phase war wie eine Prüfung, aus der wir gestärkt hervorgegangen sind. Unser Volk, der Vorsitzende APO und die PKK haben begriffen, was sie alles gewonnen haben, und was es für die Zukunft bedeuten kann, diese Errungenschaften wieder zu verlieren. Deshalb wurde mit vielerlei Aktionen Einsatz gezeigt für die momentane Entwicklungsphase. (...) Im Kampf unseres Volkes für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit ist die Führungsrolle der kurdischen Frau und Jugend unbestreitbar. (...) Im Namen des Vorsitzenden APO, der PKK, des Präsidialrates spreche ich unserem Volk sowie den Frauen und der Jugend als führenden Kräften unseren Dank und unsere Achtung aus.

Frage: Zur Zeit wird auch in Kurdistan und der Türkei die Kampagne "Identitätsbekenntnis" geführt. Verläuft die Kampagne so, wie Sie es sich wünschen?

CB: Die Anerkennung der kurdischen Frage, ihre Lösung und die Demokratisierung der Türkei, die Einheit auf freier demokratischer Basis, die Beseitigung aller Unsicherheit und Schwächen, die Stärkung und gemeinsame Erschaffung der Zukunft des kurdischen und türkischen Volkes, das Erreichen einer angemessenen Stellung auf dieser Welt, das alles ist nur möglich, wenn die Türkei die nationale und politische Identität, Sprache und Kultur des kurdischen Volkes anerkennt, unter verfassungsrechtliche Garantie stellt und die Bedingungen für eine Entwicklung schafft. Anerkennung und Lösung der kurdischen Frage und Demokratisierung der Türkei kann nur über die Anerkennung der kurdischen Identität verlaufen und ist an diesem Punkt zum Stillstand gekommen. Die Auflösung dieses Knotens wird zu wichtigen Entwicklungen führen. Wenn gewisse Kreise den Identitätskampf unseres Volkes herunterspielen, als bedeutungslos betrachten oder ohne irgendwas zu tun, bloss Sprüche vom Stapel lassen, zeigt das lediglich ihre Oberflächlichkeit, Verantwortungslosigkeit und Respektlosigkeit. Diese Frage geht nicht nur die PKK und ihre AnhängerInnen etwas an, sondern alle Menschen aus Kurdistan und alle Personen, Kreise und Organisationen, die für Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Menschenrechte eintreten.

Frage: Sie sagen, dass die Identitätsfrage ein allgemeines Problem in der Türkei ist...

CB: Das ist richtig. In der Türkei besteht heute nicht nur für die KurdInnen ein Identitätsproblem. Auch das türkische Volk und die Türkei selbst haben ein Identitätsproblem. Die Lösung der kurdischen Identitätsfrage wird auch die Identitätsprobleme der Türkei und des türkischen Volkes lösen. In diesem Sinne ist der Kampf der KurdInnen für die eigene Identität gleichzeitig der Kampf dafür, das türkische Volk und die Türkei ihrer Identität zuzuführen. Jeder Intellektuelle, Demokrat, Sozialist und Patriot, der die Türkei liebt und eine wirklich geschwisterliche Einheit des türkischen und kurdischen Volkes will, müsste den von kurdischer Seite entwickelten Identitätskampf durch Eigenbeteiligung stärken, ihn als Kampf für die eigene Identität betrachten und angesichts dessen grosse Aufregung verspüren. Die von der PKK aufgestellten Forderungen sind natürliche und menschliche Forderungen. Niemand in der heutigen Welt, der für Demokratie, Freiheit, Gleichkeit und Gerechtigkeit eintritt, kann sich gegen diese Forderungen stellen und sie zurückweisen. Sogar das türkische Regime kann nur dagegen angehen, indem es sie mit der PKK in Verbindung bringt. Auf andere Weise kann sie nichts gegen diese Forderungen einwenden.

Frage: Wo wir bei diesem Thema angelangt sind, wie bewerten sie die Herangehensweise der Türkei in bezug auf die Kampagne?

Der türkische Staat kann seine auf Härte zentrierte Haltung vielleicht noch etwas länger durchhalten, aber bis wann kann er die Zurückweisung der Identität, Sprache und Kultur des kurdischen Volkes auf diese Weise fortsetzen? Angesicht der Realität des Zeitalters, in dem wir uns befinden, ist es Fakt, dass er so nicht weitermachen kann, und wenn er es trotzdem versucht, wird es für ihn selbst in einer Katastrophe enden. Insofern ist offensichtlich, dass je früher er diese Tatsache anerkennt, desto mehr Zeit und Wert wird er gewonnen haben, desto eher wird er seine Probleme lösen können, sich vor Chaos und Verwüstung retten und einen bedeutungsvollen Entwicklungsgrad erreichen können. Die Türkei sollte sich nicht vor der Anerkennung der Identität des kurdischen Volkes fürchten, es ist ein mutiges Verhalten gefragt. Sie muss sich endlich von der Separatismus-Phobie befreien. Es ist die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik, die die Türkei zur Zersplitterung führt. Vor dieser Politik muss Angst empfunden werden. Es muss endlich begriffen werden, dass die Türkei sich mit dieser Politik bloss selbst Schaden zufügt und sie ausser Gefahr zu gar nichts führt. Diese Haltung muss aufgegeben werden. (...) Solange die kurdische Frage nicht auf der Grundlage einer demokratischen freien Einheit gelöst wird, wird der Kampf des kurdischen Volkes für Identität, Sprache und Kultur unter jeder Bedingung fortgeführt werden.

Frage: Verläuft die Kampagne auf dem gewünschten Niveau bzw. was für eine Linie verfolgen Sie weiterhin?

CB: Es haben gewisse Entwicklungen stattgefunden, aber das erforderliche Niveau ist noch nicht erreicht worden. Bisher sind bestimmte positive Resultate erzielt worden. Durch ein noch umfassenderes und kontinuierliches Vorgehen werden noch grössere Ergebnisse erreicht werden können. Deshalb darf angesichts der Angriffe der Türkei, der Verhaftungen, Folterungen, Bedrohungen, Erpressungen, Morde und der herabsetzenden und behindernden Anstrengungen verschiedener Kräfte nicht zurückgewichen werden. Im Gegenteil müssen die Identitätsbekenntnisse ausgeweitet und bis zur Erreichung von Resultaten fortgesetzt werden. Jeder muss in diesen Kampf mit einbezogen werden, niemand darf sich unter irgendwelchen Vorwänden heraushalten. Es muss sich massenweise an die Meldeämter und Gerichte gewandt werden, in grossen Gruppen muss darauf gedrängt werden, dass die Ausweise auf "Staatsbürger der Türkei und Kurde/Kurdin" umgeändert werden. Gewandt ans Parlament, an die Anwaltskammer, an Menschenrechtsorganisationen muss diese Forderung vertreten werden, es muss zu Ansammlungen vor diesen Einrichtungen kommen, auf denen auf die Anerkennung der Identität gedrängt wird. Der begonnene Entwicklungsprozess muss mit verschiedenen Aktionsformen vorangetrieben werden. Aus dem Leben gegriffene Motive, wie die Kampagne der Jugend für muttersprachlichen Unterricht oder die Einkaufsaktionen der Frauen in Nationalkleidung können noch weiter bereichert werden. Das türkische Volk und Angehörige weiterer Minderheiten müssen in die Aktionen miteinbezogen werden. Durch die Einbeziehung der Gesamtgesellschaft der Türkei werden die Aktionen gestärkt werden und zum Erfolg führen. In diesem Thema muss das kurdische Volk sich selbst vertrauen, entschlossen handeln und bis zum Erreichen von Ergebnissen den Kampf fortführen.

Frage: Es heisst, dass auf der Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates (MGK) die politischen Aktivitäten der PKK als gefährlich bezeichnet worden sind und ihre Eindämmung als unbedingt erforderlich erklärt worden ist. Warum fürchtet sich der MGK Ihrer Meinung nach so sehr vor der Strategie des politischen Serhildan?

CB: Seit drei Jahren kämpft die PKK unter Führung des Vorsitzenden APO einseitig und mit grosser Selbstlosigkeit für die Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung der Türkei. In dieser Phase hat die PKK eine strategische Veränderung vollzogen und sich neu strukturiert. Um die demokratisch-politische Kampfstrategie in die Praxis umzusetzen, hat sie die Aktionen des demokratischen Volksaufstandes entwickelt. Die oligarchische Führung in der Türkei, die Banden, Mafiosis und Profiteure, die ihre Kraft von dieser Führung erhalten, haben jahrelang Profit aus dem Krieg in Kurdistan geschlagen, die Türkei ausgebeutet und das Land in eine Hölle verwandelt, indem sie jede Art von Unrechtmässigkeit für legitim erklärt haben. Die heutige politische, soziale und wirtschaftliche Krise baut auf dieser Tatsache auf. Das kurdische Volk setzt sich unter Nutzung demokratischer Mittel und mit einem höchstgradig friedfertigen Verhalten für seine Rechte ein. Mit den Angriffen [des türkischen Staates] soll der Gebrauch demokratischer Mittel und friedlicher Methoden unterbunden werden. Diese Mentalität ist rückständig, zerstörerisch und gefährlich. Es ist eben diese Mentalität, mit der die Türkei in den Krieg gezogen und jegliche Dynamik zerstört wird. (...) Die Daten der letzten Zeit zeigen, dass die Gewalt ansteigt. Wem fällt welche Aufgabe zu, um diese Gewaltwelle zu stoppen? Es sieht so aus, als ob die neue Phase für die kurdischen und demokratischen Kräfte hart werden wird. Es ist zu erwarten, dass demokratische Einrichtungen geschlossen werden, dass sie durch ständige Repression an ihrer Arbeit gehindert werden, dass versucht wird, demokratische Stimmen zum schweigen zu bringen, Organisierung und Aktionen verhindert werden, desweiteren Verhaftungen, Repression, Folter, Morde unbekannter Täter, Bedrohungen, Erpressung. Für die KurdInnen und alle für Demokratie und Freiheit eintretenden Kräfte gilt, angesichts des neuen Konzeptes keinen Schritt zurückzuweichen, die demokratischen Stellungen bis zum Ende zu schützen und auszunutzen, die Kräfte zu vereinigen und sich gegen die Repression zu stellen und den politisch-demokratischen Kampf weiterzuentwickeln. Es muss allen bewusst sein, dass im entgegengesetzten Fall der zu zahlende Preis sehr hoch sein wird. Sich gegen das neue Konzept zu stellen, ist nicht nur Sache der KurdInnen, sondern geht jeden etwas an. Alle intellektuellen, demokratischen und freiheitlichen Kräfte aus der Türkei dürfen die KurdInnen nicht alleine lasssen und an der Seite der KurdInnen Haltung zeigen gegen Grausamkeit und Lüge. Das gleiche gilt auch für die KurdInnen. Auch sie dürfen die türkischen Wertktätigen und demokratischen Kreise nicht allein lassen und müssen mit ganzer Kraft an deren Seite stehen. Auch in Europa und den USA muss die Ermutigung der oligarchischen Führung der Türkei aufgegeben und eine Haltung angenommen werden, die der kurdischen und der Demokratie-Frage in der Türkei dient. (...)