Özgür Politka, 8.12.2001

Toprak Arik:

Geben wir unseren Stimmen die Freiheit

Existenz und Akzeptanz gehören zum gemeinsamen Charakter der Völker, Gesellschaften, Frauen und sogar aller Lebewesen im Osten. Von welcher Nation und Klasse wir auch immer sind, oder wo wir auch immer leben, es ist unser gemeinsames Lebensmotiv, das ein gemeinsames Kampfverständnis und das Fundament dafür erschafft. Wer das nicht richtig und ganz zu nutzen vermag, verschwindet einfach, schmilzt dahin oder vereinsamt. Diese Tatsache gilt sowohl für ein Volk als auch für eine Frau. So wie ein Volk, das sich selbst nicht kennt und sich selbst nicht zur Existenz verhelfen kann, ohne eine Spur zu hinterlassen verschwindet, so gilt diese Situation auch für die Frau auf der Suche nach der eigenen Identität.

Was bedeutet es, Identität zu thematisieren?

Die vor einer Weile begonnenen "Identitätsbekenntnis"-Aktionen werden unter breiter Beteiligung fortgesetzt und breiten sich wellenförmig aus. Diese Welle hat in den heutigen Tagen auch die Türkei erreicht. Um die Kraft zu begreifen, die hinter diesen Aktionen steckt, reicht es schon aus, die panische Atmosphäre in der Türkei zu betrachten. Aus dieser Panik heraus verstärkt die Türkei ihre Repression.

Eine Anerkennung der kurdischen nationalen Identität auch in politischem Sinne zu erreichen und dieses zur Sprache zu bringen, ist zuallererst für die sich selbst anerkennenden KurdInnen wichtig. Über die Kurden ist bis heute von vielen Leuten geschrieben worden. Aber jetzt hört die Welt etwas über sie aus deren eigenem Mund. Wer von sich sagt, "Ich bin KurdIn", sagt mit diesen drei Worten eigentlich sehr viele Sachen. Heutzutage bedeutet Kurdischsein eine Stufe der Kampftradition und erreichten Entwicklungen. Es gilt als Sammelausdruck für alle Errungenschaften. Die Identität, die jetzt sooft zur Sprache gebracht wird, steht für alle Werte, die die KurdInnen vertreten. Weil diese Werte der Menschheit gehören, stellt das Kurdischsein so wie die Frau eine Messlatte dar. Und es ist eine Tatsache, dass ohne diese Messlatte zu erreichen, gar nichts begriffen werden kann. Die Zusammensetzung der Farben entspricht einem Prizma, das ein Lichtstrahl trifft. In diesem Sinne stellen die Kategorien KurdIn und Frau sowohl eine Quelle als auch eine kräftige Farbe dar. Über die KurdInnen ist viel richtiges und falsches gesagt worden, aber jetzt, mit den "Identitätsbekenntnis"-Aktionen sprechen sie selbst, und sie fragen die Wirklichkeit der Welt, die zu Krieg, Armut, Schmerz und Tod verdammt sein soll: 'Ich bin KurdIn, und du?'

Wo also ist unser Platz in dieser Wirklichkeit? Als Frau wird uns schon vor der Geburt ein Name gegeben. Unsere Namen mögen verschieden sein, und wir sind auch nicht zusammen geboren worden, aber wir erleben die gleichen Dinge und teilen ein gemeinsames Schicksal. An dieses Schicksal haben wir geglaubt. Wir wissen nicht, ob das Leben einmal besser werden wird. Oder wir suchen an anderen Orten. Etwas anderes zu wollen, bedeutet jedoch, als elendige Sünderin aus der Gesellschaft ausgestossen und so den Preis dafür zu zahlen.

Manchmal kommt es vor, dass wir mit uns selbst allein sind. Und eigentlich sind das die Momente, in denen wir uns die richtigsten Fragen stellen. Aber entweder können wir sie nicht beantworten oder wir mischen uns mit Gewissensbissen in unserer Unentschlossenheit in die Menschenmenge von morgen und verschwinden. Und aus dem, was wir in späteren Tagen erleben werden, werden die gleichen Tage, deren Zeit bloss noch nicht gekommen ist. Dabei kann die Frage, wer und was ich bin, unser Leben vollständig verändern. Es gibt diese Geschichte, von dem Menschen, der sich aufmacht, um einen grossen Schatz zu finden. Nach einer langen Reise findet er den Schatz direkt vor sich liegen. Es ist eine Tatsache, dass er den Schatz nicht hätte finden können, wenn er sich nicht auf die Reise gemacht hätte. Unsere Identität als Frau zu finden, ist ebenso schmerzhaft. Aber wir wissen, dass es nicht nötig ist, in die Ferne zu gehen, um uns selbst zu finden. Vergessen wir nicht, dass die grössten Gedanken und Taten damit beginnen, uns die Fragen von neuem zu stellen, die uns am simpelsten vorkommen oder deren Antwort wir uns sicher sind.

So wie die Frage nach der Frauenbefreiung nicht nur die der Frauen und die der Freiheit nicht nur die der Gefangenen ist, so ist es auch nicht nur Sache der KurdInnen, das Kurdischsein zur Sprache zu bringen. Und die kurdische Identität wird am stärksten von der neuerschaffenen Frauenidentität vertreten. Deshalb sind es wir Frauen, die sich am stärksten in diese Wirklichkeit einbringen müssen. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit durch unsere Untätigkeit oder Unfähigkeit viele Dinge verloren. Brechen wir aus dem Schicksal aus, Besitz oder unter der Protektion von jemand anders zu sein. Geben wir alle unsere Stimmen dieser Stimme. Und sagen wir alle zusammen 'Ich bin KurdIn'.

So wie die Gefangenschaft beginnt auch die Freiheit in unseren Köpfen und wächst in unseren Herzen. Geben wir unseren von uns selbst gefangen gehaltenen Stimmen die Freiheit, um als Frauen ein Lied zu singen, dessen Noten aus Frieden, Geschwisterlichkeit und Freiheit sind.