Özgür Politika, 19. September 2001

Zum Krieg der Zivilisation

Von Murat Sarac

PKK-Präsidialratsmitglied Cemil Bayik hat davor gewarnt, dass die nach den Angriffen auf die USA entstandene Betrachtungsweise der islamischen Welt und allgemein des gesamten Mittleren Ostens als Feind neue Probleme aufbringen wird.

Gegenüber ÖZGÜR POLITIKA äusserte sich Bayik zu den Angriffen, die nicht nur Schläge auf New York und Washington bedeuteten, sondern das Thema Neue Weltordnung erneut auf die Tagesordnung gebracht haben, sowie den anschliessenden Entwicklungen.

ÖZGÜR POLITIKA: Wie bewerten Sie die Angriffe auf die USA? Warum waren sie auf die USA ausgerichtet? Was wurde Ihrer Meinung nach damit bezweckt?

CEMIL BAYIK: Fast überall auf der Welt wird über die Angriffe auf die USA gesprochen. Es wird versucht, die Gründe, Ziele und daraus entstehenden Ergebnisse zu verstehen und dementsprechend Lösungen zu entwickeln. Der Angriff hat bei der gesamten Menschheit tiefen Eindruck hinterlassen, viele Mächte und Kreise haben einen Schock erlitten, aber es bleibt festzuhalten, dass am stärksten die US-Gesellschaft, der Staat und das System erschüttert wurden. Mit dem Angriff ist eine neue Situation entstanden. Jeder sagt, dass es ganz neue Entwicklungen geben wird. Ein solcher Angriff ist durch nichts zu rechtfertigen. Als Partei teilen wir mit, dass wir diese Art von Angriffen ablehnen, dass blinde Gewalt keine Lösung für die Probleme der Menschheit erbringen kann, sondern im Gegenteil die Menschheit dadurch ernste Wunden erlitten hat, und dass mit der angerichteten Zerstörung neue Probleme und Verluste auftauchen werden. Wir sprechen der Bevölkerung der USA unser Beileid aus und teilen ihren Schmerz von Herzen. Die Angriffe sind auf das bestehende System der Welt ausgerichtet, das von den USA angeführt wird. Sie zeigen auf, dass dieses von den USA vertretene System an seinem Ende angelangt ist, dass es keine Lösung erschaffen kann. Es ist deutlich, dass nichts mehr so sein wird wie vor den Angriffen und dass ein Wechsel stattfinden wird.

Hinter dieser Art von Vorfällen steckt die enttäuschte Hoffnung, die im 20. Jahrhundert beginnend mit der Oktober-Revolution in den Sozialismus gesetzt wurde, der Zerfall des Realsozialismus, die Rolle der USA dabei, deren System die Welt formte, aber keine Lösung hervorbringen konnte, die Enttäuschungen, die die Menschheit erlitten hat. Mit dem Angriff ist deutlich geworden, dass die USA mit diesem System keine Lösung mehr hervorbringen können, keine Zukunft für die Menschheit erschaffen können. Der Grund für den Angriff ist die Wirklichkeit, die heute auf der Welt herrscht. Es ist die Wirklichkeit, die unter der Führung der USA geformt und fortgesetzt wird und auf die auf jeden und alles angewandt wird. Diese Welt ist nicht in der Lage, den Völkern und der Menschheit Begeisterung und Kraft zum Leben zu geben. (…)

ÖP: Das System hat also versucht, alles zu beherrschen, aber dieser Druck hat nur das Gegenteil bewirkt…

C.B.: Ja, die Angriffe resultieren aus der Politik und der Mentalität, die die Welt beherrschen, aus dem bestehenden Weltsystem. Als Ziel wurden die USA auserkoren, weil sie erstgradig verantwortlich sind für das System. Unter dem Namen Globalisierung wollen die USA alles unter ihr Monopol bringen. Alle Kräfte, Völker und Staaten werden in den Hintergrund geschoben, zunehmend versuchen die USA sogar, sie auszuschalten. All das hat zu dieser Sorte durchgedrehter Angriffe geführt. Sie sehen sich selbst als die einzigen Herren der Welt, wollen alles nach eigenem Ermessen ordnen und in Bewegung setzen, lassen denen, die ihnen nicht folgen, keine Lebensmöglichkeit, wollen die Welt mit niemandem teilen. Allen anderen soll ihre eigene ideologische, politische, militärische, ökonomische, technische und kulturelle Realität aufgedrückt werden. Individualität, Verschiedenheit, ein Leben mit eigenem Ausdruck, Identität, Entwicklung, Befreiung, Kreativität, all das wird negativ beeinflusst. Wissenschaft und Technik werden nicht zum Nutzen der Menschheit eingesetzt. Das sind die Gründe für die Angriffe.

ÖP: Kann man diese Vorfälle als Beginn einer neuen Phase, eines neuen Konzeptes werten?

C.B.: Kann man. Die Angriffe ermöglichen neue Gedanken, politisches Vorgehen, eine neue Praxis. Jetzt wird überall darüber diskutiert. Es wird versucht herauszuarbeiten, wie sich diese Phase entwickeln muss. Intensive Anstrengungen werden unternommen, um die Entwicklungen zu beeinflussen und zu formen und alle in den entstehenden Prozess mit hinein zu ziehen. Wenn dabei verantwortlich vorgegangen wird, und nicht engstirnig und profitgierig blind reagiert wird, können neue Herangehensweisen, Beziehungsformen und auf dieser Basis eine Neuformung der Welt geschaffen werden. Wir befinden uns ganz am Anfang dieses Prozesses. Es ist noch nicht sicher, wie er sich weiterhin entwickeln wird. Während manche Kräfte sich um ein verantwortliches Verhalten bemühen und einen Fortschritt für die Zukunft der Menschheit, für eine schönere Welt anstreben, verfolgen andere sehr gefährliche Ziele und versuchen, den Prozess für den eigenen Profit zu nutzen und in einer Weise zu beeinflussen, die neue Schmerzen für die Menschheit bedeutet. An der Spitze dieser Kräfte stehen die USA, England, Israel und die Türkei. Sie wollen die moralischen Werte und Gefühle der Menschheit für ihre schmutzigen Ziele ausbeuten und von den entstandenen Resultaten profitieren. Diese Gefahr muss wirkungslos gemacht werden, indem gegen Gewalt und Kriegshetze der Kampf für Frieden, Demokratie, Gleichheit und Gerechtigkeit verstärkt wird. Mehr als von allen anderen hängt es von dem verantwortlichen Verhalten der USA ab, dass die Menschheit nicht in neue Katastrophen geschleppt wird und nicht die Hoffnung verliert, die beim Eintritt in das 21. Jahrhundert in eine bessere Zukunft gesetzt wurde.

ÖP: Wie werden die jüngsten Ereignisse den Mittleren Osten und Kurdistan beeinflussen? Wird es möglicherweise einen Krieg gegen den Mittleren Osten geben?

C.B.: In den abgegebenen Erklärungen liegt der Schwerpunkt der Anschuldigungen auf dem Islam und dem Mittleren Osten. Wenn nicht vernünftig gehandelt wird, wird die gesamte Menschheit Schaden davontragen, aber am stärksten werden die islamischen Völker im Mittleren Osten betroffen sein. Die generellen Anschuldigungen gegen den Islam und den Mittleren Osten sind nicht akzeptabel und Angriffe auf dieser Basis können nicht gerecht sein. Eine solche Annäherung verursacht Spaltung und Krieg zwischen den Religionen, Regionen und Kulturen und wird die Welt in einen Zustand versetzen, in dem leben nicht mehr möglich ist. Die Menschheit muss sich gegen diese Herangehensweise stellen und weitere Verwüstungen verhindern. Bei den Angriffen in den USA spielen weder der Islam noch die Völker des Mittleren Ostens eine Rolle. Wie schon oben erwähnt, ist die grundlegende Ursache für die Angriffe das System, das die USA geschaffen haben und fortsetzen wollen. Islam und Mittleren Osten dürfen nicht als Opfer auserwählt werden, weil sie schwach sind und keine Einheit vorweisen können. Der Mittlere Osten ist die Wiege der Zivilisation. Europa und die USA gehen aus dieser Zivilisation hervor. Diese "Mutter", die die Menschheit geboren und aufgezogen hat und heute ihre Kraft verloren hat, sollte nicht beleidigt und undankbar behandelt werden. Die Wurzeln der Menschenheit sollten nicht angegriffen, sondern respektiert werden. Die Niederlage des Mittleren Ostens bedeutet auch eine Niederlage für Europa und die USA.

ÖP: Die USA haben im Mittleren Osten mit Israel und der Türkei zwei wichtige Verbündete, die zweifellos eine einflussreiche Rolle spielen werden.

C.B.: Schon von Anfang an haben Türkei und Israel versucht, die Situation gemäss ihres eigenen hässlichen Profitstrebens zu formen. Sie sind intensiv bemüht, die Reaktionen der Welt auf die Angriffe in den USA zu missbrauchen, die moralischen Werte und Gefühle der Menschheit auszunutzen und Gewalt und Massaker zu legitimisieren. USA, Europa, die NATO müssen diese Realität erkennen, dürfen sich nicht hinter Israel und die Türkei stellen, dürfen nicht zum Partner dieser schmutzigen Zielen werden, müssen die aggressive Kriegshetze verhindern. Israel und die Türkei beabsichtigen, unter dem Namen Antiterrorkampf Massaker an dem palästinensischen und kurdischen Volk zu verüben. Diese Region in den Krieg zu treiben, bedeutet Gefahr für den Weltfrieden. Es wird auch unter dem Vorwand der Angriffe in den USA von möglichen Angriffen auf Länder wie Irak und Iran gesprochen. Diese Tendenz bedeutet eine ernste Gefahr für den Weltfrieden und ist schlichtweg eine Verrücktheit.

Die USA lassen sich den Rücken von der NATO stärken, vereinigen sich mit rückständigen Kräften und richten sich damit gegen den Mittleren Osten und den Islam. Es sieht nicht so aus, dass es möglich ist, diese Tendenz und die daraus entstehenden Konsequenzen jetzt zu unterbrechen. Es ist zu erwarten, dass insbesondere im Irak und in Südkurdistan neue Kämpfe stattfinden werden und sich die Angriffe auf das palästinensische und das kurdische Volk intensivieren werden. Das bedeutet, dass auf Kurdistan, Palästina und alle Völker des Nahen Ostens harte Tage warten.

ÖP: Gewisse Kreise und Medienorgane in der Türkei nutzen die Gelegenheit, anstelle einer Lösung das Ansteigen der Gewalt des Staates und die Lösungslosigkeit voranzutreiben. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Die gesamte Welt hat das Bedürfnis nach Zusammenarbeit im Bemühen, sich gegen diese Art von Angriffen zu stellen. Das ist eine positive Haltung. Aber sie wird als Vorwand genommen. Die Sensibilität der Menschheit wird ausgebeutet, es wird Kriegshetze betrieben, es wird versucht, Angriffe auf den Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit und Demokratie zu rechtfertigen und alles bisher Getane zu legitimisieren. Sie versuchen, alle zu überzeugen, sich auf dieser Basis Unterstützung zu sichern, um neue Massaker einzuleiten. Von diesen verrückten Zielen muss abgesehen werden.

Es sollte nicht versucht werden, die Friedenshand, die unsere Partei, unser Volk ausgestreckt haben, zu brechen. Es darf nicht auf der Ausweglosigkeit bestanden werden, nicht zu Gewalt, neuen Massakern und Kriegen eingeladen werden. Die Entwicklungen müssen von der Regierung in der Türkei, allen politischen Kreisen, Intellektuellen, JournalistInnen, allen, die die Türkei lieben und an ihre Zukunft denken, richtig ausgewertet werden. Um die richtigen Resultate zu erzielen, muss Sorgfalt gezeigt werden. Angriffe auf den Frieden, auf Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit, die Ermordung eines Volkes führen zu nichts. Es bedeutet auch die Tötung des türkischen Volkes und der Türkei. Die Geschehnisse von der Vergangenheit bis in die Gegenwart sind Beweis dafür. Indem ein Volk verleugnet und vernichtet wird, die demokratischen Kräfte erschlagen, die Knäste vollgestopft, Demokratie und Freiheiten verboten werden, unter dem Motto "alles hat so zu sein, wie ich es will, sonst erkenne ich dein Recht auf Leben nicht an", indem aus diesem Land nicht das Land aller hier lebenden Menschen gemacht wird, kann kein Resultat erzielt werden.

ÖP: Die in Ankara zur Zeit am öftesten zur Sprache gebrachte These ist, dass die Türkei recht gehabt hat (Anm.: in ihrem "Antiterrorkampf"). Wie bewerten Sie das?

C.B.: Ununterbrochen sprechen die allseits bekannten Kreise in der Türkei darüber, dass sie recht hatten, dass die Welt sie jetzt besser verstehen und Unterstützung geben wird, dass sie die nur halb beendete Arbeit jetzt bequem zum Abschluss bringen können werden. Sie fliegen sozusagen vor Freude. Dabei haben die Entwicklungen nicht gezeigt, dass die Türkei recht hatte, sondern im Gegenteil ihre Irrtümer und Schuldigkeit verdeutlicht. Die härteste Gewalt, blinde Gewalt gegen das kurdische Volk und demokratische Kreise in der Türkei ist von der Türkei angewandt worden. Die Verleugnung der Existenz eines Volkes, das Verbot seiner Identität, Sprache, Kultur, Freiheit und Organisierung, die Ermordung von Menschen, die sagen "Ich bin Kurde/Kurdin, ich möchte in Freiheit mit meiner eigenen Identität, Sprache, Kultur leben", das Verrottenlassen dieser Menschen in den Gefängnissen, das ist der grösste Terrorismus, ist Völkermord und Schuld an der Menschheit. Die Türkei begeht diese Schuld bis heute, und immer noch bestehen gewisse Kreise darauf, die Schuld noch zu vergrössern. (…) Sie wenden grenzenlosen Terror an, nennen den Selbstverteidigungskampf dagegen Terrorismus, begehen Massaker unter diesem Deckmantel und versuchen alles und jeden auf dieser Grundlage zu täuschen. Von dieser Logik muss endlich abgesehen werden.

ÖP: Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, damit diese Art von Ereignis nicht noch einmal vorkommt? Was ist die Lösung?

C.B.: Es müssen die richtigen Konsequenzen aus den Angriffen in den USA gezogen werden. Es darf keine provokative, auf Profit ausgerichtete Herangehensweise angewendet werden. Rache, Krieg, die Entwicklung von Staat, Armee, Polizei, Geheimdiensten und Waffen kann keine Lösung sein. Die Angriffe haben ja gerade gezeigt, dass das keine Lösung ist. Es herrscht Bedarf nach einer Politikform, die den Realitäten der Welt entspricht. Der Realsozialismus hatte keinen Erfolg damit, eine Lösung für die Fragen der Menschheit zu entwickeln. Ebenso wenig erfolgreich war das System unter Führung der USA in der Erschaffung einer Lösung. Es hat sogar die Verstärkung der Probleme bewirkt. Die Menschheit kann von dieser Art von Angriffen gerettet werden, eine sicherere Zukunft und ein schöneres Leben erreichen, indem die Welt und das Leben von allen geteilt werden, indem alle menschlichen und materiellen Werte gemeinsam genutzt und entwickelt werden, indem die Gesellschaft und die Menschen ausgebildet werden und ein Bewusstsein entwickeln, indem ihre Organisierung gesichert wird, Freiheit und Demokratie entwickelt werden, die Freiheit und Zukunft von Völkern, ethnischen Gruppen und Individuen garantiert wird, mit einem funktionierenden Rechtswesen, mit der Gewinnung von Frieden und Geschwisterlichkeit (…). Um die Welt in einen Zustand zu versetzen, der schöner ist und mit dem alle Menschen leben können, müssen alle verantwortlich handeln. Aber besonders die SozialistInnen, UmweltschützerInnen, demokratischen Kräfte und Frauenorganisationen müssen ihrer Verantwortung gerecht werden. Wer sich für das Leben und die Zukunft verantwortlich fühlt, muss sich selbst hinterfragen und sich dem eigenen Verhör stellen.