|  Neues Deutschland, 23.01.2001 Vier Generationen für Eva Familie Juhnke aus Hamburg auf ihrem Weg in ein türkisches Gefängnis Von Gerd Schumann Tatsächlich unterwegs zu Eva! Bis vor anderthalb Jahren hatte Edith 
        Heinerici den Gedanken an einen Besuch bei ihrer Enkelin immer wieder 
        verdrängt. Dann diagnostizierte der Arzt Brustkrebs. Krankenhaus, 
        Amputation, zu dem ein Unfall ließen die Kräfte der 89-Jährigen 
        schwinden. "Ich konnte die Reise nicht mehr aufschieben, oder ich 
        hätte ganz aufgeben." Kam nicht in Frage. Wer aufgibt, stirbt 
        schnell.  Vor 64 Jahren war es. Die gelernte Fremdsprachensekretärin hieß 
        noch Edith Hügelmann. Da besuchte sie ihren Verlobten im "KoLaFu", 
        Konzentrationslager Fuhlsbüttel. Der Buchhändler Joachim Heinerici 
        hatte einem verfolgten Kommunisten die Flucht nach Dänemark ermöglicht. 
        Nun wurde er schwer von der Gestapo gefoltert. Edith ist noch heute davon 
        überzeugt, ihn gerettet zu haben. "Achim, tu es nicht", 
        habe sie innerlich gefleht, stumme Beschwörung, doch so eindringlich, 
        dass sie der Geliebte gefühlt haben muss. Und er band die Schlinge 
        wieder ab vom Hals.  Ein Freund aus dem kälter werdenden DeutschlandEin Freund vom Mesopotamischen Kulturzentrum (MKM) in Istanbul nimmt die 
        "für Eva" mitgebrachte Gitarre. Die alte ging zu Bruch, 
        Wärter zerschlugen sie im Gefängnis von Batman - oder war es 
        an einer anderen von Eva Juhnkes Gefängnisstationen? Sivas vielleicht 
        oder Mus? Diyarbakir nicht, dort war an Musik nicht zu denken, dort ging 
        es ums Überleben.
 Der Musiker zupft die ersten Akkorde auf dem Instrument, stimmt "Sare" 
        an, widmet Eva das Liebeslied. Der Mann singt es so schön, dass selbst 
        der ewig zappelnde Kisin, Evas Neffe, stillsitzt. Später schiebt 
        der 13jährige Junge seine Urgroßmutter durch die Menschenmassen 
        der "Grande Rue" Istanbuls. Kisin muss aufpassen, dass die schmalen 
        Rollstuhlreifen nicht an den Schienen einklemmen, da kriecht schon die 
        Straßenbahn gemächlich aus Richtung Taksim-Platz hügelab.
 Hier demonstrieren sonnabends "Friedensmütter" für 
        türkisch-kurdische Verständigung, obwohl sie jeweils blitzartig 
        von Uniformierten in Transporter geschleppt und einige Tage eingesperrt 
        werden. Der oft zitierte "Friedensplan", den der zum Tode verurteilte 
        Abdullah Öcalan, Vorsitzender der "Arbeiterpartei Kurdistan" 
        (PKK), während seines Prozesses verkündete, ist ein einseitiger 
        Gewaltverzicht, in dessen Folge Gewalt nur noch von einer Seite, der türkischen, 
        ausgeübt wird.
 Abends sitzt die Familie in ihrem billigen Hotel und erzählt davon, 
        wie alles anfing. "Evas Weggang war länger in der Diskussion", 
        erinnert sich ihr Bruder Jan, ein 30-jähriger Computertüftler. 
        Er habe die damals 28-Jährige schließlich "zu einem Treffpunkt 
        gefahren". Eva ging in eine unsichere Ferne, entgegen des egoistischen 
        Zeitgeistes den Schmerz anderer, unterdrückter, verfolgter Menschen 
        mitfühlend. Sie war überzeugt davon, sich in Kurdistan sinnvoller 
        betätigen und bei der Volksbefreiungsarmee ARGK mehr bewirken zu 
        können als im ständig kälter werdenden Deutschland. Auf 
        geheimer Route brach sie auf in eine Region, in der 20 bis 30 Millionen 
        Kurden leben, das größte Volk der Welt ohne eigenen Staat, 
        seit dem Vertrag von Lausanne 1923 verteilt auf Syrien, Irak, Iran, Armenien, 
        die Türkei. Im vergangenen Jahrhundert und auch schon zuvor hatte 
        es so manchen kurdischen Aufstand gegeben, zuletzt jenen von der PKK 1984 
        begonnenen. Allesamt waren sie gescheitert.
 Viele starben. Zehntausende. Als Eva Juhnkes deutsche Mit-Guerillera Andrea 
        Wolf 1998 erschossen wurde, begründete der uniformierte Mörder, 
        die Türkei hätte "keine zweite Kani" gebrauchen können. 
        Das kurdische Wort "Kani" heißt "Quelle" und 
        war Evas "nom de guerre". Im Oktober 1997 war sie gefangen genommen 
        worden. Ein Staatssicherheitsgericht verurteilte sie zu 15 Jahren. Nach 
        dem Prozess sie eine der bekanntesten Frauen in der Türkei, unter 
        Kurden populär als unbeugsame "Guerillera Eva", die einzige 
        Deutsche unter den mehr als 10 000 politischen Gefangenen im Land.
 Ihre Mutter, 58 Jahre alt, betritt eine kleine Anwaltskanzlei am Rande 
        des alten Zeitungsviertels von Istanbul. Eren Keskin, Anwältin und 
        auch Vorsitzende des Istanbuler Menschenrechtsvereins IHD, wirkt gelassen, 
        obwohl gerade ein weiteres Gerichtsverfahren gegen sie eröffnet wurde 
        wegen eines Interviews. "Beleidigung der Streitkräfte" 
        lautet der Vorwurf. Weitere 45 von ihr gezeichnete Presseerklärungen 
        stehen noch auf der Anklageliste der Staatsanwaltschaft. Nein, die vom 
        Westen im Zuge einer "europäischen Integration" einige 
        Male verlangte Meinungsfreiheit könne sich nicht entwickeln, solange 
        in der Türkei die Verfassung der Putschgeneräle von 1982 gelte, 
        meint die couragierte Frau, die auch Eva Juhnkes Klage wegen sexueller 
        Folter vor dem Menschenrechtsgerichtshof von Strasbourg vertritt.
 Zum "Jungfräulichkeitstest" war die Deutsche kurz nach 
        ihrer Gefangennahme gezerrt worden, abgemagert, sich nur mit Mühe 
        an den Gittern haltend, physisch und psychisch unter dem Eindruck von 
        Tag- und Nacht-Verhören über drei Wochen. Dünn und dünnhäutig 
        und doch zäh wehrte sie sich heftig, musste von fünf Soldaten 
        festgehalten werden, wurde betatscht und von zweien nackt ausgezogen und 
        betatscht und vom Arzt untersucht und betatscht. Der Nachweis nicht vorhandener 
        Unberührheit beuge einer späteren eventuellen Behauptung vor, 
        vergewaltigt worden zu sein. So die türkische Begründung für 
        gynäkologische Zwangsuntersuchungen weiblicher Gefangener. Mit der 
        sexuellen Gewalt gegen Frauen packte Eren Keskin das größte 
        Tabu der islamischen Männergesellschaft an, wurde zum Sprachrohr 
        vieler von Uniformträgern Gequälter, Gedemütigter, vor 
        Scham Verstummter. Im Fall Eva Juhnke gebe es immer noch nichts Neues, 
        sagt sie sachlich. Europas Menschenrechtsmühlen mahlen langsam.
 Aygüls Mutter ist verzweifelter denn jeEinen Tag lang im Minibus und 700 Kilometer entfernt von Istanbul liegt 
        Amasya. Die vier Generationen Juhnke/Heinerici bringen die Strecke mit 
        viel Geduld und Cay (Tee) hinter sich. Morgens vor dem Gefängnis 
        warten sie inmitten einer Gruppe Kurdinnen und Kurden. Es ist Besuchstag 
        für die 220 "Politischen", unter ihnen 20 wegen PKK-Aktivitäten 
        verurteilte Frauen. Nur Angehörige erhalten Zutritt. Die PKK bleibt 
        trotz Rückzugs und angekündigter Selbstauflösung der Guerilla 
        die Hauptfeindin der Türkei. Fotografieren vor dem Gefängnis 
        ist verboten, Besucher werden bis auf die Haut kontrolliert - heute allerdings 
        nicht ganz so gründlich, denn: "Eva hat Besuch aus Deutschland". 
        Die Kurdinnen wünschen sich: "Ihr solltet öfter kommen." 
        Beim vorigen Besuch sei das mitgebrachte Waschpulver in die Marmelade 
        geschüttet worden und das wichtige Speiseöl gar nicht erst durch 
        das Tor gelangt, erzählt eine Mutter aus Dersim.
 Diesmal stochern die Soldaten lediglich oberflächlich im Gepäck 
        herum,: Decken in Taschen, Lebensmittel-Kanister, dickbäuchige Behälter 
        mit Mehl, ein Töpfchen voll wertvollen Ahornsirups, brauner Karton 
        mit losem Blättertee, Wäsche in Plastikbeuteln, Koffer mit Kleidung. 
        Sogar die Gitarre bleibt ganz. Doris kennt die Prozedur, sie kennt auch 
        viele Wartende, "eigentlich alle". Die 44jährige Fatma 
        zum Beispiel, Mutter von Aygül Kapcak, die mit Eva bereits im Gefängnis 
        Batman die Zelle teilte und nun wieder. Aygül seit sechs Jahren mit 
        Granatsplittern irgendwo im Körper, "doch sie wurde bisher nicht 
        behandelt". Das Metall befinde sich in Hüfte und Knie, sei vermutet 
        worden. Der Arzt meint, dass Gebärmutter und Eierstöcke verletzt 
        und auch Nervenstränge betroffen seien. Aygüls Mutter ist verzweifelter 
        denn je.
 Der Befehlshabende taucht am grauen Stahltor auf, Papiere in der Hand, 
        neben sich zwei Stahlhelmträger mit Maschinenpistolen, aufgepflanzten 
        Bajonetten und ausgeklappten Hüftschießgestellen. Die Menschen 
        vor dem "Malasya Kapali Ceza Evi Müdürlügü" 
        - dem städtischen Hochsicherheitsgefängnis - unterhalten sich, 
        derweil in barschem Befehlston Namen aufgerufen werden.
 Von Versöhnung spüren die Gefangenen nichtsEndlich drinnen schiebt Jan Juhnke Rollstuhl und Großmutter durch 
        verschiedene Sperren, während Frau Heinerici immer noch eine Sorge 
        plagt. "Hoffentlich erschrickt Eva nicht. Als sie ging vor sieben 
        Jahren, konnte ich noch laufen ohne Stock, und jetzt...". Jetzt ließ 
        sie sich nichts als Freude anmerken, und Frau Heinerici sagt: "Das 
        ist Eva, wie sie immer war. Sehr aufgeschlossen, und viel redseliger noch, 
        als ich sie in Erinnerung hatte. Eva Juhnke berichtet von Bauarbeiten 
        im Gefängnis. Die Zellen würden wie überall in der Türkei 
        verkleinert. Waren bisher vielköpfige Gefangenengruppen beisammen, 
        so wird mittlerweile EU-Norm bis hin zum isolierten Ein-Mensch-Status 
        pro Einheit vorbereitet - in Neubauten sowieso und durch Umbau der vorhandenen 
        556 Knäste. In Amasya wurden die vorher zusammen lebenden 20 Frauen 
        zunächst auf zwei Gruppen verteilt.
 Kisin fragt seine Tante, was sie so mache und ob es nicht langweilig werde, 
        und wundert sich, dass Eva "so viel zu tun" hat. Der Schüler 
        einer achten Gesamtschulklasse erfährt von Analphabetinnen, die im 
        Gefängnis lesen und schreiben lernen, von Sprachunterricht. Natürlich 
        werde auch viel diskutiert und gelesen. Doris Juhnke hat wie jedesmal 
        ein knappes Dutzend türkische Bücher mitgebracht. Auf Kurdisch 
        dürfen sie nicht sein - "Fremdsprachiges" wird abgewiesen.
 Zweimal drei Stunden Sehen sich die Angehörigen, ausreichend Zeit 
        um zwischendurch auch zu schweigen, zu albern oder zu philosophieren. 
        Der Bruder: "Eva hat sehr viel vom Leben gesprochen. Es hat mir gefallen 
        und Mut gemacht für sie." Da eine Amnestie im Gespräch 
        ist, sprießt Hoffnung, doch meinen die Gefangenen, wirkliche Entspannung 
        des türkisch-kurdischen Konfliktes setze den Willen zur Aussöhnung 
        nach einem opferreichen Krieg voraus. Und davon sei wenig spürbar. 
        "Ihren Mafia-Banden werden sie eine Amnestie geben, uns nicht", 
        sagt die Schwester einer Gefangenen: "Wir sind in den Augen der Regierenden 
        Feinde." Doris Juhnke: "Der Gedanke, dass Eva freikommen könnte, 
        ist schön, aber ich glaube nicht dran."
 Die Gefangene selber hat ihre uralte Großmutter mit den Worten verabschiedet, 
        sie werde sie in Hamburg wiedersehen. "Das hat sie gesagt. Aber angesichts 
        zwölf weiterer Gefängnisjahre ist das relativ unrealistisch." 
        Sagt Doris Juhnke. Ihre Tochter wäre dann 47, ihre Mutter über 
        100. Die Altenpflegerin aus Hamburg-Poppenbüttel versucht, den Keim 
        Hoffnung nicht zur Illusion werden zu lassen. Illusionen entmutigen und 
        kosten Kraft. Evas Mutter aber benötigt ihre ganze Energie für 
        weitere Besuche und den Umgang mit der Wirklichkeit: Die Familie Juhnke/Heinerici 
        hat in Evas Haftjahren lernen müssen, wie schnell der Tod in türkische 
        Gefängnisse eindringt - zuletzt im Dezember 2000. Wieder an die 40 
        Tote, gestürmte Zellen, zwangsernährte Hungerstreikende. Auch 
        Eva hatte im Jahr zuvor über 50 Tage keine Nahrung zu sich genommen. 
        Ihr Leben stand auf der Kippe, und die Mutter durfte nur für zweimal 
        fünf Minuten zu ihr.
 Zurück in Hamburg, demonstriert Doris Juhnke mit Hunderten durch 
        die Innenstadt, ruft "Schluss mit den Massakern in der Türkei". 
        Passanten säumen den Weg die Mönkebergstraße hinunter 
        zum Rathaus. Drei junge Frauen verlassen den Bürgersteig. "Freiheit 
        für alle politischen Gefangenen" steht auf dem Transparent, 
        unter dem sie jetzt gehen - direkt vor Doris Juhnke, die sich freut und 
        sogar lacht.
 
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