Die Welt, 30.11.1999

Schutzraum Europa

Wir brauchen endlich eine ideologiefreie Diskussion über Asyl und Einwanderung

Essay von Martina Fietz

Otto Schily wird die Geister, die er rief, nicht los. Obwohl der Bundesinnenminister mehrfach versuchte, seine umstrittene Äußerung zum Asylrecht als Blick in die Zukunft zu relativieren, reißt die Kritik nicht ab. Kein Wunder, berührte der SPD-Politiker mit seiner Analyse, das deutsche Recht sei für eine europäische Harmonisierung der Asylregelungen nicht geeignet, wunde Punkte in der eigenen Partei und bei den Grünen. Allzu oft verbleibt die Diskussion in den bekannten ideologischen Mustern - statt einer grundsätzlichen Debatte über Vorzüge und Nachteile des deutschen Asylrechts Raum zu bieten und über eine Optimierung der Schutzregeln auf der einen und eine Berücksichtigung auch deutscher Interessen auf der anderen Seite nachzudenken.

Die europaweit einzigartige Festschreibung eines individuellen Anspruchs auf Asyl in unserem Grundgesetz ist Resultat der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Der Parlamentarische Rat wollte Zuflucht gewähren vor vergleichbarem Ausgeliefertsein an offizielle Machthaber. In der Konsequenz des ursprünglichen wie auch des modifizierten Artikels 16 im Grundgesetz schützt das Asylrecht vor staatlicher Verfolgung - und zwar nur vor dieser.

Das Bundesverfassungsgericht präzisierte den Begriff "Verfolgung" als Eingriff in Leben, Gesundheit, Freiheit oder andere Rechtsgüter, wenn dieser von staatlicher Seite ausgehe. Doch stellt sich die Frage, ob diese Eingrenzung noch zeitgemäß ist. Schließlich mehren sich die Fälle, in denen von staatlicher Verfolgung nicht geredet werden kann, Fälle von Bürgerkriegen, ethnischer und religiöser, sogar geschlechtsspezifischer Verfolgung. Die von Serben drangsalierten Moslems in Bosnien oder die von Islamisten bedrohten Algerier konnten und können sich nicht auf das Asyl berufen, werden nicht als politisch Verfolgte im Sinne des Grundgesetzes anerkannt. Um aber auch sie nicht ins Verderben zu schicken, werden ihnen Bleiberechte gewährt. Entweder steht dann irgendwann die Rückkehr in die Heimat an, wie im Falle vieler Bosnier. Oder Bund und Länder haben sich - wie erst jetzt geschehen - über so genannte Altfallregelungen zu verständigen, an deren Ende dann ein dauerhaftes Bleiberecht steht.

Warum also nicht ein grundlegend modernisiertes Schutzrecht für Flüchtlinge aller Art? Warum nicht eine Regelung, die den Verfahren in anderen europäischen Ländern gleichkommt und somit die Voraussetzung für eine Harmonisierung des Asylrechts schafft? Schließlich ist es keinesfalls so, dass allein Deutschland Schutz vor Verfolgung bietet. Mitte der neunziger Jahre wurden in der Europäischen Union rund 60 Prozent aller Asylanträge in der Bundesrepublik gestellt. Zum Ende des vergangenen Jahres waren es noch 33 Prozent. Setzt man die Zahl der Flüchtlinge in Relation zur Gesamtbevölkerung, steht die Bundesrepublik auf Platz neun - hinter der Schweiz, Luxemburg, den Niederlanden, Belgien, Norwegen, Österreich, Schweden und Irland. In allen europäischen Ländern existiert ein Anspruch auf Asyl. Nahezu überall in Europa besteht auch die Möglichkeit, eine ablehnende Entscheidung der ersten Instanz durch eine zweite überprüfen zu lassen. Der langwierige Gang durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, wie er hier zu Lande praktiziert werden kann und ebenfalls im Grundgesetz verankert ist, stellt allerdings eine deutsche Besonderheit dar - mit der Folge zum Teil jahrelanger Verfahren.

Im europäischen Rahmen kommt der Genfer Flüchtlingskonvention besondere Bedeutung zu. Der deutsche UNHCR-Vertreter, Jean-Noel Wetterwald, sagt, das Abkommen von 1951 manifestiere den "Übergang vom staatlichen Gnadenakt hin zu einem individuellen Schutzanspruch". Wer die Konvention unterzeichne, verpflichte sich, keine Ausländer dorthin abzuschieben oder zurückzuweisen, wo ihnen religiös, ethnisch, nationalistisch oder politisch motivierte Verfolgung drohe. Die Bundesrepublik ist der Konvention beigetreten. Für einen zusätzlichen Sonderweg besteht darum zwingend keine Veranlassung.

Natürlich wird auf europäischer Ebene darauf verwiesen, es gelte, Mindeststandards festzulegen. Wolle ein Land darüber hinausgehenden Schutz anbieten, stehe dem nichts entgegen. Kann und sollte sich die Bundesrepublik aber noch immer die Rolle des Primus auferlegen? Sicher erwächst aus den dunklen Kapiteln deutscher Geschichte eine große Verantwortung. Dieser aber wird das Land gerecht. Es geht weder um die Rolle des ewig Besseren noch um die des ewig Schuldigen. Es geht darum, Menschen in Not in angemessener Weise zu helfen - ebenso wie die Nachbarn es tun.

Anwürfe, jede Abkehr von der Grundrechtsregelung wandele das Asyl in einen staatlichen Gnadenakt, sind nicht haltbar. Dabei hätte eine ideologisch unbelastete Diskussion über das Asylrecht den Vorzug, dass eine bessere Definition der Ausländerpolitik möglich würde. Die durchaus sinnvollen Überlegungen, dass die Zuwanderung auch deutschen Interessen gerecht werden müsse, stünden dann auf neuer Grundlage. Dann wäre es möglich, über ein Zuwanderungsgesetz mit gewissen Quotenregelungen nachzudenken - etwa mit einem kalkulierbaren Kontingent an Flüchtlingen und darüber hinaus mit Quoten für solche Zuwanderer, deren Qualifikation im Wirtschaftsleben oder in der Wissenschaft benötigt wird. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass wir uns endlich von der Politik der Symbole verabschieden.