junge Welt, 29.11.99, Interview

Kämpfen Sie weiter gegen das Todesurteil für Öcalan?

Dogan Erbas ist einer der Anwälte, die den zum Tode verurteilten Abdullah Öcalan vertreten. jW sprach mit ihm

F: Was wollen Sie jetzt unternehmen, nachdem das oberste türkische Berufungsgericht das Todesurteil gegen Abdullah Öcalan bestätigt hat?

Wir werden als letzte Möglichkeit auf der juristischen Ebene in der Türkei einen sogenannten »Antrag zur Korrektur des Urteils« stellen. Dieser Antrag ist eine außerordentliche Revisionsmöglichkeit, verhindert aber nicht unbedingt den Vollzug des Urteils. Um den Antrag auf Urteilskorrektur stellen zu können, muß das Urteil uns mit Begründung schriftlich zugestellt werden.

F: Welche Chancen haben Sie mit dem Antrag?

Den Antrag stellen wir beim Generalstaatsanwalt. Der muß den Antrag zulassen, damit er überhaupt vom Gericht verhandelt werden kann. Die Meinung des Generalstaatsanwalts, Herrn Vural Savas, in dieser Sache ist bekannt: Er plädierte schon vor dem Urteil für die Todesstrafe. Aber wir wollen trotzdem diese juristische Möglichkeit innerhalb des Landes nutzen und diesen Antrag stellen.

F: Sie haben unmittelbar nach der Urteilsverkündung am Donnerstag den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angerufen. Wird die Türkei sich an ein Urteil von Strasbourg halten?

Dazu gibt es zwei Meinungen: Die erste, wie Ministerpräsident Ecevit sie vertritt, besagt, daß die Türkei die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes abwartet und sich dieser Entscheidung beugen soll. Dieser Meinung sind auch die meisten Juristen. Die andere Meinung ist, daß eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für die Türkei nicht bindend ist. Diese Meinung wird vor allem von den Vertretern der zweitgrößten Koalitionspartei, der rechtsextremen MHP, vorgebracht. Sie stützten sich darauf, daß die Türkei das Zusatzprotokoll Nummer sechs der Charta der Europäischen Menschenrechte nicht unterzeichnet hat.

Sehr wenige Juristen teilen diese Meinung. Eine Klärung darüber wird vielleicht in den nächsten Tagen kommen.

F: Haben Sie mit der Bestätigung des Urteils gerechnet? Und welche Kurdenpolitik betrieb die Türkei in den letzten Monaten?

Es gab ein Klima der Annäherung und Entspannung. Zuletzt besuchten Ministerpräsident Bülent Ecevit, Staatspräsident Süleyman Demirel und der Parlamentspräsient Yildirim Akbulut die Stadt Diyarbakir, die wichtigste Stadt in den kurdischen Gebieten. Sie wurden mit Begeisterung empfangen. Die politischen Beobachter werteten dies als den Beginn einer neuen Kurdenpolitik. Mitten in dieser Entspannungsphase kam die Bestätigung des Todesurteils.

F: Wie kam es zu dieser Entspannung?

Zu dieser Phase der Entspannung kam es vor allem durch die Initiative von Abdullah Öcalan. Er verurteilte zunächst die Selbstmordaktionen der PKK in Großstädten wie Istanbul. Danach gab es die Anweisung für das Ende der Guerilla-Aktionen ab dem 1. September. Daß die PKK seinen Anweisungen folgte, bestätigte, daß er als Anführer der Organisation - trotz seiner Festnahme - an Einfluß nicht verloren hatte. Eine Hinrichtung von Öcalan würde möglicherweise zu einer noch größeren kriegerischen Auseinandersetzung führen.

F: Nach der Urteilsverkündung haben sich sogar manche Kolumnisten in den türkischen Tageszeitungen, die als Freunde des Staatsapparates galten, gegen die Hinrichtung von Öcalan ausgesprochen. Was halten Sie von dieser Diskussion?

Alle müssen sich an dieser Diskussion beteiligen, es geht nicht nur um die Hinrichtung unseres Mandanten, sondern um die Zukunft der Türkei und um die Zukunft aller Menschen in dieser Region. Die Demokratisierung ist notwendig, und ein Grundsatz der Demokratie ist die Abschaffung der Todesstrafe. Nicht weil Westeuropa oder die USA es wollen, sondern für die Menschen hier in diesem Lande muß das Problem gelöst werden. Nicht Europa und Europäer brauchen den Frieden, sondern wir.

Interview: Orhan Calisur