junge Welt, 27.11.1999

Interview

Gibt es in der Türkei jetzt mehr Pressefreiheit?

jW sprach mit Fatih Polat, Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Evrensel

F: Die türkische Regierung hat eine Amnestie für zu Gefängnisstrafen verurteilte Schriftsteller und Journalisten erlassen. Gibt es nun mehr Pressefreiheit in der Türkei?

Das Amnestiegesetz wird die Pressefreiheit keineswegs stärken. Es dient vielmehr dazu, die Proteste gegen die Einschränkung der Meinungsfreiheit einzudämmen. Denn es gibt in der Türkei mittlerweile eine starke Opposition gegen die staatliche Bevormundung der Medien. Und letztlich dient die Amnestie Ankara als demokratisches Make-up für die angestrebte Aufnahme in die Europäische Union. Die Autoren kommen zwar frei, aber erhalten eine dreijährige Bewährungsfrist, in der sie nichts schreiben oder sagen dürfen, was gegen einen der Gesinnungsparagraphen verstößt.

F: Heißt das, es gibt keine Entspannung für regimekritische Medien wie Evrensel?

Nein, die Repressalien gegen unsere Zeitung und gegen andere kritische Medien haben nicht abgenommen. Evrensel ist seit über 300 Tagen in den Ausnahmezustandsgebieten verboten. Bis heute wurde uns kein offizieller Grund für diese Maßnahme des Ausnahmezustandsgouverneurs genannt. Das Ganze hat noch nicht einmal eine gesetzliche Grundlage.

Aber wir bekommen Solidarität für unsere Arbeit aus dem In- und Ausland. Viele Arbeiter in der Türkei begreifen Evrensel als ihre eigene Zeitung, die sich für ihre Rechte einsetzt. Nachdem im Januar 1996 unser Kollege Metin Göktepe von Polizisten verschleppt und ermordet wurde, konnte zum ersten Mal in solch einem Fall in der Geschichte der Türkei durchgesetzt werden, daß die staatlichen Mörder eines Journalisten von einem Gericht verurteilt wurden. Insbesondere die Partei der Arbeit, EMEP, aber auch andere demokratische Organisationen in der Türkei haben unsere Zeitung gegen die staatlichen Angriffe verteidigt. Genauso wichtig war die Unterstützung aus dem Ausland, auch durch die junge Welt.

F: Wie verhielten sich die Journalisten bei bürgerlichen türkischen Medien?

Zahlreiche, vor allem junge Journalisten forderten die Verurteilung der Mörder von Metin Göktepe und protestierten gegen die Angriffe auf Evrensel. Der Verein türkischer Journalisten, der Verein Junger Journalisten und die Journalistengewerkschaft erklärten sich solidarisch mit uns. Auch zwei Kolumnisten der großen staatstragenden Tageszeitungen Milliyet und Hürriyet bekundeten offen ihre Unterstützung für Evrensel.

F: Inwieweit sind auch bürgerliche Medien von der Zensur betroffen?

In der Türkei entscheidet der Nationale Sicherheitsrat, was die Medien dürfen oder nicht. Sein Wille steht über der Verfassung. Und der Nationale Sicherheitsrat hat den Separatismus zum schwersten Verbrechen erklärt. Berichtet ein Redakteur über das Kurdenproblem, dann droht ihm sofort Verfolgung und Strafe, seiner Zeitung oder seinem Fernsehsender befristetes Erscheinungs- oder Sendeverbot. Da reicht oft schon der ökonomische Druck, um die Zensur durchzusetzen. Kaum ein bürgerliches Medium ist bereit, Einnahmeverluste wegen kritischer Berichterstattung hinzunehmen. Die Hauptlast der staatlichen Verfolgung tragen linke Medien. So wurden während des Aufstandes der politischen Gefangenen vor einigen Wochen drei Journalisten von Evrensel festgenommen. Metin Göktepe war ermordet worden, nachdem er über die Beisetzung von getöteten Häftlingen berichten wollte. Deshalb waren wir in großer Sorge um unsere drei mittlerweile wieder freigelassenen Kollegen. Staatliche Repression begleitet auch weiterhin unsere tägliche Arbeit.

Interview: Jörg Hilbert