Der Bund (Schweiz), 27.11.1999

Poker um Pipelines am Kaukasus

ASERBAIDSCHAN / Durch Georgien und die Türkei statt durch Russland oder Iran soll der Grossteil des Erdöls vom Kaspischen Meer künftig auf den Weltmarkt gelangen. So sieht es ein Pipeline-Projekt vor, das mit Unterstützung der USA grundsätzlich beschlossen worden ist. Vor der Verwirklichung stehen aber noch viele Fragezeichen.

WALTER LÜTHI

Vielleicht tritt im Jahr 2004 tatsächlich aserbaidschanisches Erdöl die mehr als 1700 Kilomter lange Reise durch Georgien und Anatolien zum Zielhafen Ceyhan an der türkischen Mittelmeerküste an. Vielleicht auch nicht. Zwar haben nach mehrjährigen Verhandlungen die vier Staaten Türkei, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan im Beisein von US-Präsident Clinton vor einer Woche in Istanbul endlich jenen Vertrag unterschrieben, der die Erdölpipeline von Baku nach Ceyhan zum Baupreis von geschätzten 2,4 Milliarden Dollar möglich machen soll. Ob das «Jahrhundertprojekt» indessen je realisiert wird, ist alles andere als ausgemachte Sache.

Denn die Finanzierung ist noch nicht gesichert, obwohl die Türkei bereits 1,4 Milliarden Dollar zugesagt und der Konzern BP Amoco, der wichtigste Partner des Internationalen Aserbaidschanischen Ölkonsortiums, kürzlich sein Placet für die so genannte Südroute gegeben hat. Zuvor hatte das Konsortium zusammen mit Aserbaidschan die über Russland führende Nordroute nach Noworossisk am Schwarzen Meer favorisiert. Einige Gesellschaften, die an der Ausbeutung des Erdöls im und am Kaspischen Meer beteiligt sind, liebäugelten mit Teheran: Irans Pipelinesystem im Süden des Landes bis hinauf nach Teheran ist voll ausgebaut; die Ausfuhr vom Kaspischen Meer an den Persischen Golf wäre der kürzeste und billigste Weg. Indessen zerschlugen sich diese Absichten, weil Washington an der Wirtschaftssperre gegenüber Iran hartnäckig festhält. Eine weitere Option ist seit wenigen Monaten vom Tisch: Von den Pipelineprojekten durch Afghanistan nach Pakistan hinunter haben sich amerikanische Firmen zurückgezogen.

Süd- versus Nordroute

Damit blieben bis zuletzt zwei Varianten übrig: Die Nordroute, über das aus Sowjetzeiten bestehende Pipelinesystem von Baku durch Dagestan und Tschetschenien nach Noworossisk. Es soll durch eine neue, Tschetschenien umgehende Leitung erweitert werden: Diese KTK-Leitung verliefe durch Dagestan entlang des Kaspischen Meeres weiter nordwärts und dann westwärts ans Schwarze Meer; Anschlüsse im Norden des Kaspischen Meeres sicherten den Transport des künftigen Erdöls aus Kasachstan. In Konkurrenz zu dieser Option stand seit sechs Jahren die Südroute, die nun den Segen der vier direkt betroffenen Länder und von BP Amoco erhalten hat. Denkbar ist, dass die Rebellenüberfälle in Dagestan vom letzten August und der zweite Tschetschenien-Krieg Moskaus den Erdölkonzern von der Südroute überzeugt haben. Kann Moskau seine Kaukasus-Grenze nicht stabilisieren, dann bleiben seine Pipelinepläne Makulatur: Alle Gesellschaften, die an der Förderung in Aserbaidschan und jenseits des Kaspischen Meeres in Kasachstan und Turkmenistan (vor allem Erdgas) und an der Suche nach weiteren Energieressourcen beteiligt sind, wollen politische Sicherheit. Es ist also nicht auszuschliessen, dass Moskau aus diesem Grund den Krieg in Tschetschenien intensivieren wird. Ob Russland diesen Krieg gewinnt, ist offen. Gewiss indessen ist, dass es an der Pipelinefront vorerst eine wichtige Schlacht verloren hat.

Westanbindung via Ankara

Die nun zu bauende Südroute ist für Moskau mehr als ein wirtschaftlicher Verlust. Sie ist ein wesentlicher Aspekt im kaukasischen Poker, in dem die USA kräftig mitmischen - erfolgreich, wie der Vertrag über die Südroute zeigt. Der Kaukasus, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ein notorisches Unruhegebiet, würde mit der Süd-Pipeline - parallel dazu ist eine Erdgasleitung geplant - umgangen, und die ehemaligen Sowjetrepubliken Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan sollen vollends aus der Abhängigkeit von Russland geführt werden. Zudem wird mit der Pipeline die strategische Bedeutung des Nato-Mitgliedes Türkei erhöht: Die Türkei versteht die Leitung nach Ceyhan als Bindeglied zwischen dem Westen und Zentralasien. Das ist neben der angestrebten EU-Mitgliedschaft der zweite Pfeiler der Aussenpolitik Ankaras.

Strategische Investitionen

Nach Angaben des türkischen Aussenministeriums hat Ankara bisher den fünf Staaten Zentralasiens Kredite von mehr als zwei Milliarden Franken gewährt, türkische Firmen haben über zehn Milliarden Franken in diese neuen Märkte investiert. Durch die Pipeline soll dereinst ein Mehrfaches der Investitionen zurückfliessen und zugleich der westliche und der türkische Einfluss, politisch wie ökonomisch, zunehmen. Der Westen wählt den «sanften Weg», um Zentralasien stärker an sich zu binden, während Russland im Kaukasus von Katastrophe zu Katastrophe taumelt und die ehemaligen Sowjetrepubliken in der politischen Bebenregion noch mehr verunsichert.

Georgien als Korridor

Dieser «sanfte Weg» des Westens hat zumindest in Georgien zu einem gewissen Erfolg geführt. Die Republik lag Anfang der Neunzigerjahre wirtschaftlich vollständig darnieder, bewaffnete Banden verunsicherten das Leben in der Hauptstadt Tiflis, und die Regierung wurde dem Sezessionskrieg der von Moskau unterstützten Abchasen kaum Herr. Das änderte sich mit dem Ausbau der bestehenden Pipeline von Baku nach Supsa ans Schwarze Meer. Georgien ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts, als Baku im ersten Ölboom schwelgte, ein bedeutender Transitkorridor: Die erste Pipeline wurde 1902 gebaut, in Sowjetzeiten wurde über Georgien sibirisches Öl in den Ostblock ausgeführt. Bei der nun vorangetriebenen Umgehung Russlands bei den Erdöltransporten kommt Georgien eine Schlüsselrolle zu. Die USA unterstützten deshalb den Ausbau der Leitung von Baku nach Suspa - ein bedeutendes Signal an den soeben wieder gewählten Präsidenten Schewardnadse. Seit Anfang dieses Jahres wird über diese Pipeline das so genannte Frühöl aus Aserbaidschan transportiert - 120 000 Barrel täglich, bei einer Kapazität der Leitung von 130 000 Fass (159 Liter). Zwar sind die Transitabgaben bescheiden (18 Cent pro Barrel), aber mit der neu gewonnenen Korridorfunktion, im Verein mit mehr politischer Stabilität und Sicherheit, ist der Güterverkehr aus der Region des Kaspischen Meeres massiv gestiegen; Iran und Russland werden seither zugunsten Georgiens umgangen. Laut «Financial Times» ist der Güterumschlag in den Häfen Batumi und Poti am Schwarzen Meer innert eines Jahres ums Zehnfache gestiegen: Erdölleitungen scheinen die gleiche Sogwirkung zu haben wie Autobahnen.

Erst bei Boom rentabel

Bereits wird eine Erdgasleitung von Turkmenistan durchs Kaspische Meer bis in die Türkei geplant. Wie die projektierte Erdöl-Südroute verliefe sie bis westlich von Tiflis parallel zur bestehenden Pipeline. Diese Leitung Baku-Suspa erhielte zwar durch die neue Strecke Konkurrenz, zugleich aber profitierte Tiflis von massiv erhöhten Transitabgaben - sofern Erdöl und -gas je in der erhofften Menge flössen und die neuen Röhren rentabel machten.

Und da sind Zweifel angebracht: Mindestens eine Million Barrel täglich müssten durch die Südroute gepumpt werden - zehnmal mehr als heute (zum Vergleich: Irak transportierte bis zum Stopp des Programms «Erdöl für Nahrungsmittel» täglich 2,2 Millionen Barrel durch die Leitung von Kirkuk nach Ceyhan) Ob diese Menge ab 2004 erreicht wird ist, bleibt jedoch fraglich.

Flop oder Jahrtausendfund?

Zum einen ist die Opec nach wie vor ein schlagkräftiges und diszipliniertes Kartell, wie die gegenwärtige Spitzenpreise unseres Heizöls zeigen. Zum andern mussten die Schätzungen der Erdölvorkommen Aserbaidschans drastisch nach unten korrigiert werden. Kasachstan könnte theoretisch die Lücke füllen - sofern sich die fünf Anrainerstaaten (Russland, Aserbaidschan, Iran, Turkmenistan und Kasachstan) endlich über die Schürfrechte im Kaspischen Meer einigen könnten und sich die ins Kashagan-Feld bei Tengis gesetzten Hoffnungen erfüllen. In dieses Feld in 4000 Metern Tiefe im Norden des Kaspischen Meeres sind bisher über 600 Millionen Dollar investiert worden. Die Bohrungen sind jetzt in 2000 Metern Tiefe angelangt. Wird das Kashagan-Feld zum Jahrhundertfund oder zum gigantischen Flop? Diese Frage entscheidet mit, ob die Südroute je gebaut werden kann; allerdings müsste dann auch noch eine Zubringerpipeline von Tengis durchs Kaspische Meer nach Baku gebaut werden. Nicht nur (wenn auch hauptgewichtig) geostrategische Absichten stehen der Pipeline Baku-Tiflis-Midyat-Ceyhan zu Gevatter, ebenfalls Umweltschutzüberlegungen sind in die Planung einbezogen: Erdöl, das aus Supsa (Georgien) oder Noworossisk (Russland) durchs Schwarze Meer in Tankern westwärts transportiert wird, muss das Nadelöhr des bereits jetzt überlasteten Bosporus passieren. Das Risiko von Tankerunfällen im Raum Istanbul nähme drastisch zu.