Frankfurter Neue Presse, 26.11.1999

Türkei erschwert sich den Weg nach Europa

Todesurteil gegen Öcalan bestätigt

Ankara. Das höchste türkische Berufungsgericht hat das Todesurteil gegen PKK-Führer Abdullah Öcalan am Donnerstag bestätigt. Der Antrag auf eine Berufungsverhandlung wurde in letzter Instanz abgelehnt. Der Prozess sei juristisch einwandfrei verlaufen, hieß es in der kurzen Begründung des Kassationsgerichtshofs. Öcalan war im Juni des Separatismus und Hochverrats schuldig gesprochen worden; eine Verurteilung, die automatisch die Todesstrafe nach sich zieht. Der Hinrichtung müssen noch das Parlament und Staatspräsident Süleyman Demirel zustimmen. In der Türkei wurde seit 1984 kein Todesurteil mehr vollstreckt, obwohl es Dutzende Urteile gab.

Als Richter Demirel Tavil das Urteil verkündete, brandete vor dem Gerichtsgebäude in Ankara Jubel auf. Rund hundert Angehörige von Soldaten, die im Kampf gegen die PKK getötet wurden, riefen: "Lang lebe die Justiz" und "Europa, hör gut zu!". Anschließend zogen rund 1000 Demonstranten vor das Parlament und skandierten: "Billigt die Hinrichtung!"

Die Bestätigung des Todesurteils gegen Öcalan wird Europa nicht gefallen. In nur zwei Wochen soll auf dem EU-Gipfel in Helsinki über einen Kandidatenstatus für die Türkei entschieden werden.

Immer wieder hat die Europäische Union Ankara erklärt, dass sich Anwärter für den "europäischen Club" an bestimmte Regeln halten müssen. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Todesstrafe. Der Beschluss des obersten türkischen Berufungsgerichts wird deshalb den Weg Ankaras in die EU nicht gerade erleichtern.

Diskutiert wird über die Todesstrafe - in der Türkei ist seit 1984 niemand mehr hingerichtet worden - immer wieder. Erst vor zwei Wochen hatten die türkischen Koalitionsführer, Ministerpräsident Bülent Ecevit, der Chef der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), Devlet Bahceli, und der Vorsitzende der Mutterlandspartei (Anap), Mesut Yilmaz, über das Thema debattiert. "Wenn wir die Strafe abschaffen würden, könnten wir gelassener sein. Wir könnten so auch einen großen Nachteil vor Helsinki beseitigen", wurde der Staatsminister für Menschenrechtsfragen, Mehmet Ali Irtemcelik, zitiert.

Nach dem Ende des juristischen Verfahrens geht der Fall nun an das türkische Parlament. Danach kann Öcalan nur noch von Staatspräsident Süleyman Demirel begnadigt werden.

Ecevit - ein erklärter Gegner der Todesstrafe - hat vor kurzem UN-Generalsekretär Kofi Annan gesagt, dass Ankara zuvor jedoch auf den Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte warten werde. Am Donnerstag äußerte er sich dagegen nur unklar auf eine entsprechende Frage. "Wir wissen nicht, ob so eine Entscheidung kommen wird oder nicht", sagte Ecevit.

Doch die Anwälte des auf der Gefängnis-Insel Imrali inhaftierten PKK-Chefs haben bereits angekündigt, dass sie sich an das Gericht in Straßburg wenden werden. Sollte Ankara einen Straßburger Beschluss abwarten, dürfte es noch Monate wenn nicht sogar Jahre dauern, bis über das endgültige Schicksal Öcalans entschieden werden wird. In dieser Zeit könnte Ankara die Todesstrafe auch abschaffen.

Ecevit könnte die Bürger darauf einstimmen, die ausgestreckte Hand der PKK zu ergreifen, die seit 1. September einen einseitigen Waffenstillstand einhält. Öcalan hat dem bewaffneten Kampf abgeschworen und noch in seiner Stellungnahme vor dem Kassationsgerichtshof seinen Friedenswillen bekräftigt.

Doch innerhalb der türkischen Koalition ist die Haltung Ecevits umstritten. Verteidigungsminister Sabahettin Cakmakoglu von der rechtsextremen MHP plädiert für eine schnelle Entscheidung durch das Parlament.

"Es gibt keine Verpflichtung, auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu warten", sagte der Minister nach einem Bericht der türkischen Zeitung "Milliyet". "Was unsere Rechtsprechung sagt, das muss sein."

Und der stellvertretende MHP-Vorsitzende Sefkat Cetin sagte, wenn dem Druck der EU nachgegeben und die Todesstrafe nicht vollstreckt würde, wäre die Unabhängigkeit der Türkei in Frage gestellt. Und er richtete eine unmissverständliche Drohung an Ecevit und seine Demokratische Linkspartei (DSP): "Diejenige Person oder Organisation, die das zu verantworten hat, wird vom Volk gestürzt."

Mit dieser Ansicht sichert sich die MHP die Unterstützung Tausender "Märtyrer-Familien". In dem seit 15 Jahren tobenden Krieg zwischen der PKK und dem türkischen Militär sind nach türkischen Angaben mehr als 32 000 Menschen ums Leben gekommen. Die Hinterbliebenen fordern Rache und die Hinrichtung des "Mörders Öcalan". Dass sich die Türkei damit alle Wege nach Europa verbauen würde, ist den Angehörigen egal. "Dann nehmt ihr uns eben nicht in die EU auf, wir brauchen Euch nicht", sagte ein junger Mann aus Istanbul trotzig.

Von einer Lösung des Kurdenkonfliktes ist die Türkei noch immer meilenweit entfernt. Auf die zahlreichen Friedensappelle des inhaftierten Separatistenführers hat die türkische Politik bisher nicht reagiert.

Auch die Aktionen der "PKK-Friedenstruppen", die sich den türkischen Behörden ergeben haben, wurden nur als Taktik bezeichnet. Die offizielle Devise lautet weiter: "Es gibt kein Kurdenproblem, sondern nur ein Terroristenproblem".

afp, 25.11. Nach der Bestätigung des Todesurteils für PKK-Chef Abdullah Öcalan wächst der Druck auf die politische Führung in Ankara, auf eine Hinrichtung zu verzichten. Der 50-jährige Kurdenführer kann jetzt nur noch auf eine Begnadigung durch das Parlament und Präsident Süleyman Demirel hoffen. Das oberste Berufungsgericht in Ankara fällte am Donnerstag in Abwesenheit Öcalans seine Entscheidung. Die Europäische Union (EU), mehrere europäische Länder, Moskau sowie die Bundesregierung forderten die Türkei auf, das Urteil nicht zu vollstrecken. Auf Antrag der Öcalan-Anwälte wird sich nächste Woche der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit dem Fall befassen. Anders noch als bei Öcalans Festnahme im vergangenen Februar in Kenia blieben sowohl in Deutschland als auch in den türkischen Kurdengebieten Ausschreitungen von seinen Anhängern zunächst aus.

Das Ende Juni ergangene Todesurteil wurde vom Obersten Berufungsgericht nach fünfwöchiger Prüfung wie erwartet bestätigt. Die fünf Richter kamen einstimmig zu dem Schluss, dass sich der Vorsitzende der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) des Hochverrats und des Separatismus schuldig gemacht habe. Die PKK kämpfte seit 1984 mit Waffengewalt für einen unabhängigen Kurdenstaat. Dabei wurden mehr als 31.000 Menschen getötet. Mit mehreren Friedensappellen aus der Haft versuchte Öcalan in den vergangenen Monaten, die PKK zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes zu bewegen.

Der Rechtsweg in der Türkei ist für Öcalan nunmehr erschöpft. Ob das Urteil je vollstreckt wird, ist dennoch fraglich: Sowohl das türkische Parlament als auch Präsident Demirel müssen der Hinrichtung am Galgen zustimmen. Zudem liegt die letzte Hinrichtung in der Türkei bereits 15 Jahre zurück. Hoffnung setzt Öcalan vor allem in den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Bereits nächste Woche könnte der Gerichtshof die Türkei im Schnellverfahren auffordern, die Hinrichtung zumindest vorläufig auszusetzen. Das Grundsatzurteil dürfte nach Angaben eines Justizsprechers "spätestens in einem Jahr" ergehen. Präsident Demirel deutete am Donnerstag an, dass Ankara die Straßburger Entscheidung abwarten will.

Bei der Entscheidung über die Hinrichtung dürfte auch der türkische Wunsch nach einer EU-Mitgliedschaft eine Rolle spielen. Der für die Erweiterung zuständige deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen (SPD) wies darauf hin, dass die Abschaffung der Todesstrafe Voraussetzung für die angestrebte Aufnahme in die EU sei.