Tagesspiegel, 26.11.1999

Nach dem Gericht spricht die Politik (Analyse)

Trotz der Bestätigung des Todesurteils ist das Leben des PKK-Chefs Öcalan sicher

Susanne Güsten

Seit Abdullah Öcalan vor gut einem Jahr als Asylbewerber in Westeuropa auftauchte, versucht die Türkei den Eindruck zu erwecken, sie lasse sich in diese Angelegenheit nicht hineinreden, schon gar nicht von den Europäern. Eine Zeit lang tat sie das mit Erfolg: Der deutsche Verzicht auf eine Auslieferung des PKK-Chefs und die kurze italienische Gastfreundschaft für den kurdischen Rebellenführer machten es Ankara leicht, den Europäern Heuchelei vorzuwerfen und ein Mitspracherecht abzusprechen.

Mit der Gefangennahme Öcalans in Kenia, dem spektakulären Hochverratsprozess auf der Gefängnisinsel Imrali und seiner Verurteilung zum Tod am Galgen schien der türkische Staat seinen Anspruch zu untermauern, ohne Rücksicht auf europäische Empfindlichkeiten verfahren zu dürfen. Entsprechend zerrüttet schien das türkisch-europäische Verhältnis in den ersten Monaten des Jahres. Die jüngste Bestätigung des Todesurteils wirkt da nur konsequent.

Doch die Realität sieht anders aus: Noch nie seit seiner Festnahme war Öcalans Leben weniger in Gefahr - und daran hat Europa allem Schein zum Trotze keinen geringen Anteil. Allerdings ist es das Zuckerbrot, das Wirkung zeigt, und nicht die Peitsche.

Auch wenn die Europäische Union und westliche Regierungen sich enttäuscht zeigten: Die Bestätigung des Todesurteils durch den Berufungsgerichtshof ist keine politische Trotzreaktion. Und wäre es aus europäischer Sicht nicht ebenso ein falsches Signal gewesen, wenn die türkische Regierung der Justiz politische Vorgaben gemacht hätte - auch wenn es in der Absicht geschehen wäre, Öcalan den Strang zu ersparen?

Angesichts der Gesetzeslage konnten die Richter kein anderes Urteil fällen. Die Forderungen nach einem Verzicht auf die Hinrichtung des PKK-Chefs können nicht die Gerichte erfüllen, das kann nur die Politik. Und zwar erst jetzt, am Ende des innertürkischen Rechtsweges.

Es häufen sich bereits die Hinweise, dass die Politik diese Chance nutzen will. Der juristische Teil der Angelegenheit sei eine Sache, der politische Teil eine andere, sagte Staatspräsident Süleyman Demirel nach dem Urteil des Berufungsgerichts. Das letzte Wort über Öcalans Schicksal ist noch nicht gesprochen. Die Entscheidung über die Vollstreckung des Todesurteils liegt de facto bei der Regierung. Zwar entscheidet verfassungsgemäß das Parlament; im Rechtsausschuss, der vor dem Plenum über den Fall beraten muss, kann die Koalition die Akte aber aufhalten und die Hinrichtung so faktisch aussetzen.

In Ankara gilt als ausgemacht: Vor dem EU-Gipfel am 10. Dezember in Helsinki wird es sowieso keine Anweisung für die Hinrichtung Öcalans geben. Denn die Türkei hofft dort auf Anerkennung als EU-Beitrittskandidat. Hat Ankara aber den begehrten Kandidatenstatus erst einmal erhalten, rückt die Hinrichtung Öcalans in noch weitere Ferne. Ein Regierungssprecher erläuterte in dieser Woche, als Mitspieler im EU-Kandidatenkreis sei die Türkei schon eher gewillt, sich an die Spielregeln in Europa zu halten. Ministerpräsident Bülent Ecevit deutete gestern an, dass Ankara entgegen seiner sonstigen Praxis in diesem Fall die Entscheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg abwarten will. So hat das Jahr seit der Ankunft Öcalans in Italien wieder einmal gezeigt: Im Umgang mit der Türkei kann Ermunterung von außen sehr viel bewirken, Druck dagegen wenig.