Stuttgarter Zeitung 26.11.1999

Europarat warnt vor Hinrichtung Öcalans

Todesurteil gestern bestätigt - Entscheidung liegt bei Demirel - Proteste in Deutschland

Von Jan Keetman

ANKARA/STUTTGART. Hunderte von Kurden sind gestern in Stuttgart und anderen Städten für den PKK-Führer Abdullah Öcalan auf die Straße gezogen. Ihm droht die Hinrichtung, nachdem das Revisionsgericht in Ankara das Todesurteil am Donnerstag bestätigt hat. Über die Vollstreckung müssen nun das türkische Parlament und der Staatspräsident entscheiden. Die Europäische Union und der Europarat kritisierten den Gerichtsbeschluss. Öcalan wird für den Tod von mehr als 30000 Menschen verantwortlich gemacht.

Angehörige gefallener Soldaten und Polizisten brachen in Jubel aus, als die Richter ihren einstimmig gefassten Beschluss verkündeten. Die Polizei musste Öcalans Verteidiger vor Angriffen aus dem Publikum in Schutz nehmen. Vor dem Gericht knüpften einige Männer einen Strick und hängten damit ein Bild Öcalans an einen Baum. Danach zogen sie zum Mausoleum des Republikgründers Atatürk und legten einen Kranz nieder. Die Menschen skandierten Parolen wie: ¸¸Hängt den Ungläubigen auf!''

Die fünf Richter kamen zu dem Urteil, dass der Kurdenführer Öcalan in erster Instanz einen fairen Prozess hatte. Im Fall von Verfahrens- oder anderen substanziellen Fehlern hätten sie eine neue Verhandlung in der Vorinstanz anordnen können. Nun muss als nächstes das türkische Parlament über die Hinrichtung entscheiden. Die Mehrheit der Abgeordneten hat sich bereits für die Vollstreckung des Todesurteils und gegen seine Umwandlung in eine lebenslange Freiheitsstrafe festgelegt. Die Entscheidung über eine Vollstreckung des Urteils liegt jedoch letztlich beim Präsidenten.

EU-Kommissar Günter Verheugen zeigte sich über die Bestätigung des Todesurteils enttäuscht. Er hoffe, die Hinrichtung werde nicht vollstreckt. Verheugen appellierte an die Türkei, die Todesstrafe abzuschaffen, wenn sie der EU beitreten wolle. Die Türkei hofft, im Dezember auf dem EU-Gipfel in Helsinki als Beitrittskandidat nominiert zu werden. Der Europarat erklärte gestern, eine Hinrichtung Öcalans könne nicht geduldet werden. Die Todesstrafe lasse sich nicht mit den Grundwerten des Europarates vereinbaren. Öcalans Verteidiger will vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen. Die Türkei erkennt das Straßburger Gericht an und würde seinen Entscheidungen folgen. Allerdings hat das Land einen Zusatz zu den Europäischen Menschenrechtsverträgen, der die Todesstrafe ächtet, nicht unterzeichnet.