Stuttgarter Zeitung 26.11.1999

Todesurteil gegen Öcalan

Die Türkei spielt auf Zeit

So schnell ändern sich die Zeiten. Noch vor wenigen Tagen waren die Staats- und Regierungschefs der Welt nach dem OSZE-Gipfel in Istanbul voll des Lobes für die Türkei. Keine Rede von Menschenrechtsverletzungen oder niedrigen demokratischen Standards. Politiker sämtlicher Couleur sprachen sich dafür aus, der Türkei auf dem kommenden EU-Gipfel in Helsinki den Status eines Beitrittskandidaten zuzuerkennen. Doch das ist Schnee von gestern. Nach der Bestätigung des Todesurteils für den PKK-Chef Abdullah Öcalan steht Ankara wieder in der Kritik.

Dort haben nach den Juristen nun die Politiker das Wort - und diese sehen sich in einem scheinbar unlösbaren Dilemma. Bestätigen sie das Urteil, rückt die angestrebte EU-Mitgliedschaft endgültig in unerreichbare Ferne. Wenn sie Öcalan aber begnadigen, steht der Türkei eine schwere innenpolitische Krise ins Haus. Denn die meisten Türken machen den PKK-Chef persönlich für den Tod von weit mehr als 30000 Menschen verantwortlich, die der Krieg gegen die kurdischen Rebellen gefordert hat. Um diesem Problem zu entgehen, wird Ankara wohl auf Zeit spielen und die Entscheidung so lange wie möglich hinauszögern. Zupass kommt den Politikern, dass sich die Verteidiger Öcalans an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden werden. Ministerpräsident Bülent Ecevit, ein entschiedener Gegner der Todesstrafe, hat bereits angedeutet, den Spruch aus Straßburg abwarten zu wollen. Damit dürfte sich das endgültige Schicksal Öcalans erst in einigen Jahren entscheiden. In dieser Zeit könnte Ankara die Todesstrafe abschaffen - sollte der Türkei wirklich so viel daran gelegen sein, eine realistische Perspektive für einen Beitritt zur EU zu haben.Von Knut Krohn