taz 26.11.1999

Türkei: Das Öcalan-Todesurteil und die politische Entspannung

Vom Terroristen zum Politiker

Obwohl die oberste juristische Instanz das Todesurteil gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan gestern bekräftigte, ist seine Hinrichtung weit weniger wahrscheinlich als im Juni. Damals schlugen die Emotionen hoch, ein großer Teil der türkischen Gesellschaft und auch des Parlaments hätten sich wohl für eine Vollstreckung des ersten Urteils ausgesprochen. Das hat sich dramatisch verändert. Dazu hat Öcalan viel beigetragen, denn er hat seine bereits im Prozess propagierte neue Friedenspolitik aus dem Knast heraus konsequent fortgesetzt. Er hat die PKK nicht nur ganz allgemein zum Kompromiss aufgefordert, sondern ganz konkret den Rückzug aus der Türkei angeordnet und ein Ende des bewaffneten Kampfes erklärt. Darüber hinaus hat er alles dafür getan, dass sich sein Bild in der türkischen Öffentlichkeit ändert. Er hat Erklärungen zu den unterschiedlichsten Themen abgegeben und es auch nicht versäumt, der Bevölkerung sein Beileid für die Opfer der Erdbeben zu übermitteln. Öcalan, seufzte Ministerpräsident Ecevit bereits, ist ja so allgegenwärtig wie ein wichtiger Politiker. Tatsächlich hat der Chef der PKK erreicht, dass er nicht mehr als Babykiller gilt, sondern als Führer der PKK, ja fast schon als normaler Politiker.

Was Apo selbst nicht geschafft hat, wurde durch das Erdbeben erledigt. Der größte Teil der Bevölkerung hat jetzt andere Sorgen als die PKK. Damit scheint Ecevits Rechnung aufzugehen, der bereits im Juni darauf setzte, dass sich die Gemüter mit der Zeit schon beruhigen würden. Wahrscheinlich wird die türkische Regierung nun abwarten, wie der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg den Fall Öcalan beurteilt. Das bedeutet einen erneuten Zeitgewinn von rund zwei Jahren, bis dann das Parlament endgültig über die Vollstreckung entscheiden wird. In dieser Zeit hofft Ecevit, die kurdische Frage weitgehend entschärft zu haben. Dabei setzt die türkische Regierung auf wirtschaftliche Entwicklung im Südosten des Landes und eine De-facto-Akzeptanz der kulturellen kurdischen Identität, ohne den Kurden offiziell Minderheitenrechte einzuräumen.

Da sich auch auf kurdischer Seite - wie seinerzeit bei der PLO - die pragmatischen Kräfte durchzusetzen scheinen, ist eine langsame Annäherung nicht ausgeschlossen. Im türkisch-kurdischen Verhältnis ist jedenfalls trotz des gestrigen Urteils Entspannung angesagt - egal ob Öcalan den Rest seines Lebens auf der Gefängnisinsel Imrali Blumen züchtet oder in den kommenden Konflikten politisch noch eine Rolle spielen wird.

Jürgen Gottschlich