Die Welt 26.11.1999

Der Feind verschwindet

Kommentar von Dietrich Alexander

Die Türkei steht zurzeit so dicht vor den Toren der Europäischen Union wie noch nie. Auf der EU-Konferenz in Helsinki werden womöglich die Signale gesetzt für eine engere Anbindung Ankaras an die europäische Staatenfamilie. Noch immer, auch nach einigen Enttäuschungen in der Vergangenheit, ist dies der ausdrückliche Wunsch des Landes am Bosporus. Allein deshalb kann sich die Türkei eine Hinrichtung ihres ärgsten Feinds Öcalan nicht leisten.

Zugegeben: Die juristischen Mittel in der Türkei sind nach der Bestätigung des Todesurteils gegen den Kurdenführer durch den Kassationsgerichtshof erschöpft. Doch es gibt noch politische Wege: Das Parlament kann eine Vollstreckung ablehnen, und Präsident Demirel könnte den Staatsfeind begnadigen. Es zeugte von staatlicher Größe, wenn die Republik Atatürks Gnade vor Recht ergehen ließe, die Todesstrafe sogar abschaffte. Denn sie taugt nicht als Instrument für innenpolitische Konflikte. Ankara würde im Ansehen der Europäer enorm wachsen, wenn es auf Rache verzichtete. Außerdem scheint die türkische Gesellschaft nach 15 Jahren Krieg reif zu sein, eine solche Entscheidung zu respektieren und auch zu honorieren.

Die politische Nomenklatura in der Türkei wird umdenken müssen, wenn die PKK als Feindbild wegfällt, da sie mehr oder weniger kapitulierte. Das Militär gerät in Erklärungsnöte. Man kann nicht weiter gegen einen Feind kämpfen, der sich verabschiedet hat. Auch das Justizsystem muss internationalen Normen Rechnung tragen. Regierungschef Bülent Ecevit ist sich dessen bewusst. Schon während des Prozesses gegen Öcalan enthielt er sich weise jeder Scharfmacherei. Er hat es vor allem in der Hand, die Bevölkerung seines Landes auf einen neuen Kurs einzuschwören - einen Kurs, der auf lange Sicht die Aussöhnung mit dem kurdischen Volk zum Ziel hat. Die Zeit wird auf diesem innenpolitisch schwierigen Weg der beste Freund Ankaras sein, denn sie heilt bekanntlich Wunden.

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