Die Welt 26.11.1999

Die türkischen Strafrechtsreformer spielen auf Zeit

Von Silvia Tellenbach

Heidelberg - Der türkische Kassationshof hat das Todesurteil gegen PKK-Chef Abdullah Öcalan bestätigt. Nach ersten Pressemeldungen hat sich der 9. Strafsenat in dem 37-seitigen Urteil vor allem mit etwaigen Verfahrensfehlern auseinander gesetzt und den Ablauf des Prozesses als korrekt angesehen. Auch an der Bewertung von Öcalans Aktivitäten hatte das Gericht nichts auszusetzen: Die Taten des Kurdenchefs seien ausreichend für eine Verurteilung nach dem Separatismusartikel. Eine mildere Bestrafung wegen tätiger Reue hielt der Senat bei dem Gewicht der Öcalan vorgeworfenen Taten nicht für angebracht. Dass jemand, der 15 Jahre lang mit einer Privatarmee gegen einen Staat Krieg führt, mit der Höchststrafe bestraft wird, wenn er diesem Staat in die Hände fällt, dürfte wohl in allen Staaten zu erwarten sein.

Was aber hier erregt, ist, dass diese Höchststrafe das Todesurteil ist. In der Türkei muss ein Todesurteil vor seiner Vollstreckung vom Parlament als Gesetz verabschiedet und vom Staatspräsidenten unterzeichnet werden. Das Parlament ist keineswegs verpflichtet, ein solches Gesetz zu erlassen; seit 1984 ist das nicht mehr geschehen, obwohl eine Reihe von rechtskräftigen Todesurteilen in der Zwischenzeit verhängt wurde.

Viele Politiker, Ministerialbeamte, Richter, Anwälte und Strafrechtswissenschaftler setzen sich für die Abschaffung der Todesstrafe ein; der Entwurf eines neuen türkischen Strafgesetzbuches sieht sie nicht mehr vor. Die Europäische Menschenrechtskonvention und der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg werden in Reformdiskussionen im Straf- und Strafprozessrecht ständig angeführt. Dass Öcalans Anwälte nach Straßburg gehen, ist den türkischen Strafrechtsreformern sehr recht. Die Hoffnung ist, dass das Verfahren dort möglichst lange dauert und bis zu einer Entscheidung das bereits jetzt nachlassende "Interesse der Straße" weiter geschwunden ist.

Ob die Todesstrafe in der nächsten Zeit in der Türkei abgeschafft wird oder ob man die Akte Öcalan dann auf den wachsenden Stapel der Todesurteile legt, die stillschweigend nicht vom Parlament bestätigt werden, wird die Zeit zeigen. Die unausgesprochene Interessengemeinschaft von Öcalans Anwälten und führenden politischen Kreisen in der Türkei lässt vermuten, dass es zu einer Hinrichtung nicht kommen wird.

Silvia Tellenbach ist Referentin für die Türkei am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Heidelberg

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