Süddeutsche Zeitung 26.11.99

Friedensliebe bis zur Selbstaufgabe

Auch nach der Bestätigung der Todesstrafe gegen Öcalan strebt die PKK nach Einigkeit von Kurden und Türken

Die "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) hat dem Urteil der Berufungsinstanz im Verfahren gegen ihren Vorsitzenden Abdullah Öcalan verhältnismäßig gelassen entgegengesehen. In den Lobsprüchen PKK-naher Medien auf ihren Führer fiel nur auf, dass "Apo" - Apo bedeutet Onkel und ist der Spitzname Öcalans - nicht mehr wie früher mit Jesus Christus, sondern mit dem griechischen Philosophen Sokrates verglichen wurde.

Für die PKK hätte es indes keinen großen Unterschied bedeutet, ob das Gericht das Urteil bestätigt oder verworfen hätte. Denn an der seit Beginn des Öcalan-Prozesses verfolgten neuen Strategie der Annäherung an den türkischen Staat würde kein Spruch etwas ändern. Kader und Kämpfer der Organisation haben sich bisher mit einer an Selbstaufgabe erinnernden Linie an den von Öcalan selbst vorgegebenen neuen Kurs gehalten: Schluss mit dem Krieg, stattdessen ein gemeinsames Ringen von Kurden und Türken um ein einiges demokratisches Vaterland.

Den vorläufigen Höhepunkt dieser Friedenskampagne stellte ein Auftritt des legendären Frontkommandeurs und Mitgliedes des PKK-Präsidiums Cemil Bayik im neuen PKK-Sender "Medya-TV" dar. Bayik, der nicht zuletzt in der türkischen Propaganda lange Zeit als Hardliner gegolten hatte, schwenkte nun vollständig auf den Kurs des großen Vorsitzenden um. Zieht man den pseudo-marxistischen Jargon ab, so blieb ein knappes Sechs-Punkte-Programm für eine politische Lösung des Konfliktes.

Bayik sprach einige Dinge aus, die dem Establishment in Ankara nicht gefallen werden, aber gleichwohl unbequeme Wahrheiten enthalten. So erinnerte er daran, dass die türkische Republik von den Kurden mit begründet worden sei, doch seien diese dann abgedrängt worden. Eine Lösung sei unausweichlich, die PKK habe weit reichende Vorbedingungen erfüllt. Wenn es gleichwohl nicht zu einem Ausgleich komme, so trage der türkische Staat die Alleinschuld. Mehr noch: Die Türkei würde in diesem Fall mehr verlieren als die Kurden.

Besonders schmerzlich müssen die Punkte 4 und 6 geklungen haben, knüpften sie doch unmittelbar an den Türkei-Besuch von US-Präsident Bill Clinton und an den Gipfel der "Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (OSZE) in Istanbul an. Ersterer hatte den Türken süßen Honigseim eingeflößt, als er ihr Land als eine regionale Supermacht im nächsten Jahrtausend darstellte; die OSZE wiederum hatte das Recht der Staatengemeinschaft auf die Einmischung in innere Angelegenheiten festgeschrieben, wenn ein Mitgliedstaat gegen OSZE-Normen verstößt. Das war auf Tschetschenien gemünzt, kann aber auch für die kurdischen Gebiete der Türkei in Anspruch genommen werden.

Rhetorisch gewitzt nutzte der PKK-Kommandeur die Tagträume seiner Gegner von einer glorreichen türkischen Zukunft: "Wenn dieses Land im 21. Jahrhundert ein starkes Land sein will, dann muss es die kurdische Realität anerkennen", sagte er. Und mit einem Griff an die türkische Ehre fügte er hinzu: "Die Türkei muss nun Mut zeigen." Es gebe keinen Grund mehr, vor der PKK Angst zu haben.

Zu guter Letzt unterbreitete Bayik der Regierung ein besonders raffiniertes Angebot: Wenn die Türkei verhindern wolle, dass sich der Westen in ihren Kurdenkonflikt einmische, dann gebe es nur einen Ausweg. Türken und Kurden müssten "als Brüder" ihr Problem allein regeln. Im Generalstab in Ankara dürfte man wahrscheinlich nicht gewusst haben, ob man angesichts dieser Kühnheit lachen oder toben sollte. Eine Antwort hat das Militär indes noch nicht gefunden.

Wolfgang Koydl