Süddeutsche Zeitung 26.11.99

Todesurteil schmälert Ankaras Europa-Chancen

Premier Ecevit fürchtet wegen des Falles Öcalan um den Status der Türkei als Beitrittskandidat

Von Wolfgang Koydl

Die fünf Richter des "Yargitay", des obersten türkischen Berufungsgerichtes in Ankara, entledigten sich ihrer Aufgabe rasch und geschäftsmäßig: Nur wenige Minuten dauerte die Sitzung, in der sie einstimmig das Todesurteil gegen den kurdischen Parteiführer Abdullah Öcalan wegen Hochverrats bestätigten. Niemand hatte ernsthaft angenommen, dass das Gericht den Spruch der unteren Instanz kassieren würde. Die türkische Justiz hätte sich nach eigenem Verständnis lächerlich gemacht, wenn sie in dem "Prozess des Jahrhunderts" Verfahrensfehler entdeckt hätte, die allein eine Neuaufnahme gerechtfertigt hätten. Auch ein Antrag der Öcalan-Verteidiger an Generalstaatsanwalt Vural Savas, das Urteil des Berufungsgerichts noch einmal zu überprüfen, dürfte keinen Erfolg haben. Damit wären alle juristischen Wege im Inland für Öcalan endgültig erschöpft.

Vor dem Gerichtsgebäude brachen Angehörige von Soldaten, die im Kampf gegen Öcalans Kurdische Arbeiterpartei (PKK) getötet worden waren, in Jubel aus. Sie hielten türkische Fahnen und Fotos ihrer gefallenen Söhne und Ehemänner in den Händen und forderten die Hinrichtung Öcalans. An einem Baum vor dem Gerichtsgebäude wurde ein Bild Öcalans symbolisch aufgehängt. Die Menschen skandierten "Apo ("Onkel", Spitzname Öcalans) wird sterben, die Märtyrer werden lachen".

In Köln, Essen, Hamburg und Göttingen demonstrierten mehrere hundert Kurden friedlich gegen das Urteil. Sie forderten die Freilassung ihres Führers und die Abschaffung der Todesstrafe in der Türkei.

Am Schicksal Öcalans, der als einziger Häftling auf der Gefängnisinsel Imrali im Marmara-Meer festgehalten wird, ändert sich fürs erste nichts. Jedenfalls muss er auch jetzt noch nicht täglich mit seiner Exekution rechnen, obwohl er sich nach den Worten seiner Anwälte auf den Tod vorbereitet. Als nächste Instanz hat zunächst das Parlament das Wort. Die Parlamentarier müssen mehrheitlich das Todesurteil billigen, damit es vollstreckt werden kann. Diese Mehrheit ist leicht zu erreichen: Zwei der drei Koalitionsparteien in Premierminister Bülent Ecevits Regierung, die extrem nationalistische MHP und die früher als bürgerlich geltende Anap, dringen auf eine möglichst schnelle Behandlung des Falles durch die Volksversammlung. Sie wollen Öcalan hängen sehen. Allerdings haben diese beiden Parteien noch weniger zu bestimmen als der Ministerpräsident, der aus ethischen Gründen prinzipiell gegen die Todesstrafe ist. Ecevit möchte daher die Angelegenheit auf eine ganz lange Bank schieben. Er möchte warten, bis sich die Gemüter beruhigt haben, der Fall in Vergessenheit geraten und möglicherweise die Todesstrafe abgeschafft ist. In der Türkei ist seit 15 Jahren niemand mehr hingerichtet worden.

Auf alle Fälle will der Premierminister eine weitere emotionale Zuspitzung vor Mitte Dezember vermeiden, wenn die Europäische Union in Helsinki darüber entscheidet, ob die Türkei ein Kandidat für einen EU-Beitritt werden darf. Die Europäer haben ebenso wie US-Präsident Bill Clintion bei dessen jüngster Türkei-Visite mehr oder weniger deutlich gemacht, dass Ankara seine europäischen Hoffnungen ein- für allemal begraben könnte, wenn Öcalan am Galgen enden würde.

Daher haben Ecevit- und weniger deutlich auch Staatspräsident Süleyman Demirel - eine europäische Variante ins Spiel gebracht, die ihnen und dem Verurteilten Zeit gewinnen soll. Beide Politiker haben mehrmals zu verstehen gegeben, dass die Türkei einen Spruch des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte abwarten wolle, bevor sie die Akte an das Parlament weiterleiten würden. Öcalans Anwalt-Brigade teilte bereits mit, dass sie das Gericht in Straßburg schon am Donnerstag angerufen habe. Ein Sprecher in Straßburg bestätigte, dass der Gerichtshof am kommenden Dienstag ein Dringlichkeitsverfahren mit aufschiebender Wirkung prüfen werde. Die Regierung in Ankara könnte dann aufgefordert werden, die Hinrichtung bis zu einer Entscheidung in der Sache auszusetzen.

Weder Ecevit noch Demirel haben indes unzweideutig bekräftigt, dass sie sich an ein Urteil aus Straßburg auch halten würden. Das müssen sie allerdings auch nicht, da die letzte Entscheidung über das Schicksal des PKK-Führers in den Händen des türkischen Militärs liegt. Von dieser Seite waren die Signale in letzter Zeit jedoch wenig ermutigend. So hat die Armee ihre Offensive gegen PKK-Kommandos fortgesetzt, die auf Geheiß Öcalans das Kampfgebiet verlassen sollten. Jüngste Berichte sprechen darüber hinaus von groß angelegten Operationen der türkischen Streitkräfte im Nord-Irak gemeinsam mit den Peschmergas des irakischen kurdischen Clan-Häuptlings Massud Barsani.

Mit Beunruhigung haben Beobachter zudem die jüngste Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates verfolgt, der einen Tag vor dem Urteilsspruch des Berufungsgerichtes zusammengetreten war. Vor diesem höchsten Entscheidungsgremium der türkischen Republik, dessen Tagesordnung vom Militär vorgegeben wird, hatte erstmals ein Verteidigungsminister öffentlich seinem Regierungschef widersprochen. Sabahattin Cakmakoglu, der der rechtsextremen "Partei der nationalistischen Bewegung" (MHP) angehört, wischte Ecevits Einwand vom Tisch, dass man den Fall nicht übers Knie brechen dürfe. Cakmakoglu bestand vielmehr darauf, dass das Parlament so schnell wie möglich über Öcalan befinden müsse. Bezeichnend war die Reaktion der Generäle: Sie halfen nicht Ecevit, sondern hüllten sich vielsagend in Schweigen.