junge Welt 26.11.1999

Wie wird der Sozialabbau in der Türkei forciert?

jW sprach mit Seyit Aslan, Mitglied im Vorstand der türkischen Partei der Arbeit (EMEP)

F: Die türkische Regierung unter Bülent Ecevit hat das Sozialversicherungssystem neu geregelt. Welche Auswirkungen hat das auf die Situation der Arbeiter?

Die jüngsten Einschnitte bei der Sozialgesetzgebung ist die Fortsetzung der bereits vor und nach dem Militärputsch von 1980 begonnenen Umstrukturierung. Die an der Regierungskoalition unter Ecevit beteiligten Parteien vereinen mehr als 50 Prozent der Stimmen auf sich und verfügen im Parlament über eine große Mehrheit. Das gibt ihnen ganz andere Möglichkeiten, die von dem Internationalen Währungsfond (IWF) und der Weltbank erhobenen Forderungen umzusetzen. Die Folgen sind massive Angriffe auf die Rechte der Arbeiter. Das Rentenalter wurde heraufgesetzt, die staatliche Krankenversicherung für Familien abgeschafft, zahlreiche Staatsbetriebe sollen privatisiert werden.

Die neue Regierung hat das Rentenalter für Frauen auf 58 und für Männer auf 60 Jahre erhöht. Da haben viele der unter härtesten Bedingungen arbeitenden Menschen gar nicht mehr die Aussicht, das Rentenalter zu erreichen. Und früher reichte es aus, wenn ein arbeitendes Familienmitglied einen Beitrag für die staatliche Renten- und Krankenversicherung entrichtete. Jetzt muß jedes Familienmitglied eigene Beiträge für die Krankenversicherung einzahlen. Und die Beiträge zur Rentenversicherung wurden erhöht. Durch das Gesetz verlieren viele Familien die gesundheitliche Absicherung, sie können es sich einfach nicht leisten, jedes Familienmitglied extra zu versichern.

F: Doch die staatliche Rentenversicherung bleibt bestehen.

Die Menschen hatten früher einen Anspruch auf Rente, nachdem sie 5 000 Tage gearbeitet hatten. Das hat man jetzt auf 7 500 Tage erhöht. Doch der Trend geht zu völlig versicherungsfreien Arbeitsverhältnissen. Das wird sich durch die Erhöhung der Beiträge noch ausweiten. Eigentlich muß jeder Arbeitgeber spätestens vier Wochen nach Einstellung eines Arbeiters eine Erklärung gegenüber der Sozialversicherung abgeben. Das wird aber häufig unterlaufen, ohne daß die Unternehmer irgendwelche Konsequenzen zu befürchten haben. Es gibt keine Kontrolleinrichtung in der Türkei, die so etwas überprüfen könnte.

F: Mit der neuen Sozialgesetzgebung hat die Regierung ein Gesetz erlassen, daß den Zu- und Abfluß von ausländischem Kapital erleichtert. Warum?

Der Umbau der Sozialgesetze wurde von dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank diktiert. Die internationalen Monopole nutzen die Reichtümer an Bodenschätzen und die niedrigen Löhne in der Türkei, um ihre Profite zu steigern. Insbesondere die USA spielen hier eine entscheidende Rolle. Den USA geht es sowohl um ökonomische als auch um geostrategische Interessen. Die USA stärkten über die Türkei ihre Vormachtstellung in der Region, auch gerade nach dem Zerfall der Sowjetunion. Besonders bei den Konflikten im Kaukasus spielt Ankara eine wichtige Rolle für den Westen.

Im übrigen geschieht auch die Privatisierung von Staatsbetrieben unter dem Diktat von IWF und Weltbank. In der Vergangenheit konnten einige Privatisierungen mit gerichtlichen Entscheidungen rückgängig gemacht werden. Mit dem neuen Gesetz können alle Staatsbetriebe privatisiert werden, und ausländisches Kapital kann frei über diese verfügen. Da geht es vor allem um die Unternehmen auf dem Energiesektor. US- Konzerne zeigen unter anderem Interesse an dem riesigen Staudammprojekt GAP.

F: Welche Bereiche sind noch von den Privatisierungen betroffen?

Neben den Energieversorgungsunternehmen schielen US-Konzerne auf die staatlichen Ölraffinerien. Das sind die Staatsbetriebe, die in der Türkei die größten Gewinne einfahren.

F: Gibt es Widerstand gegen die Privatisierungspläne?

Großen Widerstand gibt es gegen die geplante Privatisierung der Elektrizitätswerke und der staatlichen Sümer-Bank.

Ein Problem dabei ist, daß die bürgerlichen Medien den Staatsbetrieben unterstellen, sie würden keine Gewinne erwirtschaften. Die Betriebe werden als Belastung für den Staat dargestellt, was einfach nicht stimmt. Man versucht, die Arbeiter glauben zu machen, die Privatisierung sei die logische Folge einer vermeintlich schlechten Ertragslage. Dennoch gelang es gerade in jüngster Zeit den fortschrittlichen Teilen der Gewerkschaften, massive Proteste gegen die Privatisierungen zu organisieren. Die Arbeiter wissen heute, daß die Privatisierung mit Entlassungen und dem Abbau von sozialen Rechten einhergeht.

F: Wie verhält sich die staatstragende Gewerkschaftskonföderation TÜRK-IS, die ja ein Kunstprodukt des US-Geheimdienstes ist, gegenüber den Kämpfen der Arbeiter?

TÜRK-IS war in der Vergangenheit sicher ein staatstragender, von außen geschaffener Gewerkschaftsverband. Doch heute sind dort viele Arbeiter aus wichtigen Bereichen und fortschrittliche Kräfte organisiert. Es gibt eine linke Opposition innerhalb dieses Verbandes. Die ist so stark, daß sie die TÜRK-IS zur Beteiligung an den aktuellen Kämpfen zwingen kann. Die TÜRK-IS ist eine der großen Gewerkschaftskonföderationen der Arbeiter in der Türkei.

Die Gewerkschaftsverbände haben sich gegen den Umbau der Sozialversicherung und gegen die Übernahme staatlicher Betriebe durch das US-Kapital ausgesprochen. Im Juli dieses Jahres haben in Ankara mehr als 500 000 Menschen gegen die Pläne der Regierung demonstriert. Ministerpräsident Ecevit sah sich gezwungen, den Entwurf für das neue Sozialgesetz an eine Kommission zur Überarbeitung zu überstellen. Beschlossen wurde das Gesetz dann im Schatten des großen Erdbebens vom 17. August. Die Regierung hat die Verzweiflung und das Elend der Menschen ausgenutzt, um die neuen Gesetze durchzusetzen. Das heißt aber nicht, daß es zukünftig keinen Widerstand mehr dagegen geben wird.

Interview: Jörg Hilbert