Die Welt, 25.11.1999

Abdullah Öcalan wird für Ankara zum Testfall

Das Berufungsgericht entscheidet heute über die Rechtmäßigkeit des Todesurteils gegen den Kurden-Chef

Von Dietrich Alexander

Berlin - Ob das 21. Jahrhundert ein türkisches sein wird, wie Staatspräsident Süleyman Demirel es heraufziehen sieht, hängt auch davon ab, wie die politischen und juristischen Erben Mustafa Kemal Atatürks mit ihren Feinden umgehen. Heute entscheidet die 9. Strafkammer des Kassationshofes in Ankara über die Zulässigkeit des Todesurteils gegen Abdullah Öcalan, den "Staatsfeind Nummer eins".

Seit der spektakulären Entführung des Chefs der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) aus Nairobi am 15. Februar und dem nicht minder Aufsehen erregenden Prozess auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali hat es allerdings vorher nicht für möglich gehaltene politische wie gesellschaftliche Veränderungen in der Türkei gegeben. Denn Öcalan rief offen zum Frieden auf und befahl seinen kämpfenden Kadern, die Waffen niederzulegen. Und tatsächlich begann die kurdische Guerilla, die Forderung ihres Chefs zu befolgen, zog sogar ihre Truppen aus dem Kampfgebiet Südostanatoliens zurück. Darauf war niemand gefasst gewesen.

Öcalan sprach bei jeder sich bietenden Gelegenheit von einer friedlichen "Koexistenz von Kurden und Türken in einer demokratischen Republik", in der allen ethnischen Gruppen kulturelle Rechte eingeräumt werden. Dem in breiten Teilen der türkischen Bevölkerung verhassten "Babymörder" gelang es auf diese Weise, die so genannte "kurdische Frage" auf internationaler Ebene zu thematisieren.

Langjährige Kenner der Türkei waren erstaunt darüber, dass Öcalan ein nahezu freier Zugang zu den Medien gewährt wurde, mit deren Hilfe er seine Worte millionenfach unter das Volk bringen konnte. Über die Zeitungen fand so etwas wie ein Meinungsaustausch statt zwischen Öcalan und dem eigentlich mächtigsten Mann in der Türkei: dem türkischen Stabschef General Hüsseyin Kivrikoglu. PKK-Exilkader werteten dies als "indirekte Verhandlungen", Insider vermuten geheime Absprachen.

Ganz ohne Zweifel haben Öcalans Festnahme und seine defensiven Äußerungen während seiner Verhandlung einen Prozess in Gang gesetzt, der zu einer Lösung der Kurden-Problematik führen könnte. Öcalan selbst scheint dem Urteil gelassen entgegen zu sehen. In jedem Fall "haben wir unsere historische Rolle gespielt und einen Weg für eine Lösung für das größte Problem der Türkei gezeigt", diktierte er seinen Anwälten in die Feder.

Sollte das Berufungsgericht das Todesurteil bestätigen - was allgemein erwartet wird -, wäre dies noch nicht das Ende des Kurden-Führers. Das Parlament müsste noch mit einer Zweidrittelmehrheit zustimmen, und schließlich könnte Präsident Demirel, ein erklärter Gegner der Todesstrafe, den 50-Jährigen begnadigen. Zudem will Ankara die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in Straßburg abwarten. Sollte das Urteil dort verworfen werden, muss der Fall Öcalan neu verhandelt werden.

Mit anderen Worten: Der Fall Öcalan ist noch lange nicht abgeschlossen, er kann noch Jahre dauern - solange vielleicht, bis die Türkei die Todesstrafe per Verfassungsänderung aus ihren Gesetzbüchern gestrichen hat. Pläne dafür gibt es bereits. Und wenn das nächste Jahrhundert ein türkisches, möglicherweise an der Seite Europas, werden soll, so wird die Abschaffung der Todesstrafe - die ohnehin in der Türkei seit 1984 nicht mehr vollstreckt wurde - eine Voraussetzung dafür sein.

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