Neue Züricher Zeitung, 23.11.1999

Zigeuner als anerkannte Minderheit der OSZE

Weitere Ungereimtheiten in der Charta von Istanbul

Doe. Zu den Aufgaben der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) gehört der Schutz von Minderheiten und und die Förderung von deren Rechten. Auch in der am Freitag in Istanbul unterzeichneten Sicherheitscharta werden einige Absätze Minderheitenfragen gewidmet, bevor sich das Kapitel «Die menschliche Dimension» den «vollen und gleichen Menschenrechten der Frauen» und dem Menschenhandel zuwendet. Frauen waren übrigens am Gipfel unter den Journalisten in grosser Zahl auszumachen, anders als bei den Politikern: Die Schweizerin Dreifuss war die einzige unter den 54 Staats- und Regierungschefs.

Keine Nennung der Kurden

Als einzige namentlich genannte Minderheit tauchen die Roma und Sinti im Gipfeldokument auf. Warum nicht die Kurden? An der OSZE-Vorbereitungskonferenz war ihre diskriminatorische Behandlung durch die türkischen Institutionen zu Recht kritisiert worden, vor allem von Nichtregierungsorganisationen. Dem Gastland Türkei wäre, so will es diplomatische Gepflogenheit, eine Nennung der Kurden auf Gipfelebene nicht zuzumuten, da diese Bevölkerung im Südosten ja gar keine Minderheit bilde, sondern - ausser den Terroristen der PKK - die gleichen Chancen wie alle Türken habe. Deshalb findet sich in den Absätzen über die Minderheiten keine Nennung der Kurden. Ähnlich geht es den Tschetschenen, bei denen es sich nach russischer Lesart weder um eine religiöse noch eine sprachliche oder kulturelle Minorität, sondern um die Spezies Terroristen und Banditen handelt. So kann die Charta ohne weiteres Gewalt gegen Minderheiten verurteilen und zum Aufbau pluralistischer Gesellschaften aufrufen, ohne dass sich irgendein OSZE-Mitgliedstaat betroffen fühlen und deshalb den Konsens verweigern müsste.

Die Zigeuner aber, genauer die Stämme der Roma und Sinti, geben der OSZE Anlass zu Besorgnis. Doch kein Staat fühlt sich für sie verantwortlich, niemand kümmert sich um sie, weder Rumänien noch die Slowakei oder Tschechien. Wenn, wie kürzlich geschehen, eine Mauer zu ihrer Ausgrenzung gebaut wird, dann liegt das in der sonst als Lokalautonomie gepriesenen Zuständigkeit des Bürgermeisters, nicht der Regierung. Trotzdem hat die neue Charta ihre «besonderen Schwierigkeiten» anerkannt; Abhilfe soll geschaffen werden, um ihnen volle Chancengleichheit zu ermöglichen und ihre Diskriminierung auszulöschen. Wie kommen die Roma und Sinti in den Charta-Text? Da ist zum einen die Lobby der Nichtregierungsorganisationen zu nennen, welche sich seit einiger Zeit am Rande von OSZE-Veranstaltungen um die Zigeuner kümmert. Anderseits hat sich der Minderheitenkommissar der Organisation des Problems angenommen, weil es zu explosiven sozialen Situationen führen könnte. Dies würde, wofür es bereits Anzeichen gibt, in eine nur noch schwer kontrollierbare Migrationswelle münden. Und davor fürchten sich so viele Staaten, dass die OSZE auch selbst schon eine Veranstaltung über die Roma und Sinti durchgeführt hat.

Hoffnung auf Prävention

Bei den Kurden ist solche Prävention vor Jahren verschlafen worden. Nun ist es längst zu spät. Und da die türkische Armee nach dem Appell des zum Tode verurteilten Öcalan an seine Leute die Kampfeinsätze ihrerseits reduzieren konnte, ist die Kurdenfrage wohl bald als Thema der wirtschaftlichen Reintegration abzuhandeln, das mit dem EU-Strukturfonds zu lösen sein wird. Um Zigeuner (mit Nennung des Stammesnamens) und Frauen (namenlose Minderheit - oder Mehrheit?) und vielleicht um die Nordkaukasier (ohne genaueren Namen) darf sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa kümmern. Wen das stört, der kann zur Kenntnis nehmen, dass die OSZE immer noch ein Prozess ist. Hoffnung auf weitere Schritte der Präventivdiplomatie - in ausgewählten Fällen - ist erlaubt.