Süddeutsche Zeitung, 23.11.1999

Umzug tut weh

Migranten leiden häufig unter psychischen Problemen, Therapien nach westlichem Muster helfen ihnen jedoch selten

Von Elke Brüser

Selbst Familien, die nur von Bonn nach Berlin oder von München nach Dresden ziehen, spüren die Belastung: Über Nacht kann die eigene Mundart zum Stigma werden. Es fehlen die Freunde, die Verwandtschaft, das religiöse Umfeld oder der vertraute Arzt. Für Ausländer ist die Umstellung noch größer. "Umzug tut weh - selbst wenn keine psychischen Probleme erkennbar sind; aber besonders dann, wenn man sich in einen neuen Kulturkreis begibt", sagt der Kinderpsychiater Peter Riedesser vom Universitäts-Krankenhaus Eppendorf in Hamburg.

Riedesser und seine Fachkollegen versuchten auf der Tagung "Transkulturelle Psychiatrie" an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) zu klären, was die Psychiatrie tun kann, um die Integration von Ausländern zu verbessern. In Deutschland leben etwa acht Millionen Ausländer - sieben Prozent der Bevölkerung. In Frankfurt und Berlin sind es über 20 Prozent. Die meisten kamen als "Gastarbeiter" aus dem Mittelmeerraum, andere sind Spätaussiedler aus Osteuropa oder wurden als Asylsuchende aus Krisengebieten aufgenommen.

Der schwache Vater als Gefahr

"Bedenkt man die Intoleranz gegenüber Ausländern, ihre Probleme mit Sprache und Bürokratie sowie die Konflikte durch unterschiedliche kulturelle Wertvorstellungen, müssten eigentlich viel mehr von ihnen psychotherapeutische Hilfe beanspruchen als dies der Fall ist", glaubt Wielant Machleidt, Leiter der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie an der MHH. Der Grund: Ausländische Patienten versuchen meist länger, die Probleme in der Familie zu lösen. Erst bei erheblichen, psychosomatischen Beschwerden wird dann Hilfe bemüht - in der Regel bei einem Allgemeinmediziner. Die Überweisung an einen Spezialisten unterbleibe dort aber oft, beklagen die Psychiater.

Dennoch werden bei Zugewanderten doppelt so häufig psychosomatisch bedingte Schmerzen und Erschöpfungszustände diagnostiziert als bei Einheimischen. Zugleich kursieren unter Ärzten mitunter diskriminierende Krankheitsbilder, die psychische Probleme verschleiern: der "Türkenbauch" für Bauchschmerzen mit ungeklärter Ursache oder das "mama-mia-Syndrom" für Heimweh. Die Symptome sind oft Ausdruck einer enormen Belastung der Familie - etwa wenn nun neben dem Vater auch die Mutter Geld verdient oder wenn Kinder ihre Familie als sprachgewandte "Außenminister" vertreten. Beides schwächt die traditionelle Rolle des Vaters in einer türkischen Familie und belastet die Eltern oft psychisch.

Aber auch Säuglinge und Kleinkinder reagieren auf Stress durch eine neue Umgebung. "Ein großes Problem ist der Abbruch von Beziehungen", erläutert Riedesser. Seine Arbeitsgruppe stellte fest: Bei Kindern von Asylbewerbern, die viele Wohnortwechsel hinter sich hatten und ihre Kinder oft nicht selbst betreuen konnten, waren Daumenlutschen und Einnässen, Albträume, Schlafstörungen und Kontaktstörungen bis hin zum Verstummen (Mutismus) außerhalb der Familie stark verbreitet. Auch Bauchschmerzen und Appetitstörungen sind bei ihnen häufig psychischen Ursprungs. Die Kinder leiden darunter, Grenzgänger zwischen verschiedenen Wert- und Erziehungstraditionen zu sein. Und mit dem Schulbeginn wird von Lehrern und Mitschülern oft eine Anpassung erwartet, die die Eltern - bewusst oder unbewusst - als "Germanisierung" ablehnen.

In der Pubertät, so Riedesser, verstärkt sich die Suche nach der eigenen Identität: "Bin ich deutscher Russe oder Russlanddeutscher? Deutsche Türkin oder türkische Deutsche?", fragten sich die Jugendlichen. Krisenreich sei diese Phase insbesondere für Mädchen, die sich einerseits der deutschen Clique anschließen möchten, andererseits mit strengen Sexualnormen und Verboten aufgewachsen sind. "Es kommt dann oft zu schweren Auseinandersetzungen in den Familien", berichtet der Jugendpsychiater, "die zu Magersucht und Bulimie oder anderen psychosomatischen Symptomen führen können." Manchmal erleiden junge Frauen sogar Lähmungen oder hysterische Anfälle. Solche Symptome werden in Deutschland fast nur noch in Einwandererfamilien beobachtet, waren aber bis zum Beginn dieses Jahrhunderts unter Frauen stark verbreitet.

Aber selbst wenn die Betroffenen den Weg zum Spezialisten finden, bezweifelt Machleidt, dass der das optimale Handwerkzeug besitzt, um zu helfen. "Zwar haben sich Psychotherapien und andere moderne Methoden bei der Behandlung seelischer Erkrankungen bewährt, aber sie wurden von und für westeuropäische und nordamerikanische Mittelstandsmenschen entwickelt", betont der Experte für Transkulturelle Psychiatrie. Doch selbst wenn die meisten seelischen Erkrankungen überall auf der Welt vorkommen, sind sie kulturspezifisch gefärbt, werden von der einen Gemeinschaft gut, von einer anderen weniger gut toleriert und sind unterschiedlich häufig oder werden unterschiedlich häufig erkannt.

Von Heilern lernen

Als Beispiel nennt Machleidt die Schizophrenien. Während offenbar nur 2 von 1000 Menschen in der Inselwelt des Südpazifik an dieser Form der Psychose erkranken, sind es in Irland immerhin 20 von 1000. Und während eine Schizophrenie in Industrieländern häufig chronisch wird, verschwindet sie in Entwicklungsländern meist wieder. Machleidt und der Psychologe Karl Peltzer von der University of the North in Südafrika erklären dies so: In traditionellen Kulturen bietet die Großfamilie seelisch Kranken mehr Schutz und akzeptiert sie leichter, so dass die Sicherheit spendenden Kontakte unter den Familienmitgliedern erhalten bleiben. Außerdem könnten Gesellschaften, die vom Ackerbau leben, Betroffene besser in ihren Alltag integrieren. Zudem werten afrikanische Heiler ihre auffälligen Patienten nicht selten auf. In Zeremonien machen sie diese zum Zentrum des öffentlichen Interesses - statt ihnen ihre Eigenarten abzugewöhnen.

Wahrscheinlich könne die westeuropäische Psychiatrie von den Heilern und weiteren Elementen aus anderen Kulturen noch lernen, glauben die Experten. Warum, erklärt Machleidt am Beispiel südeuropäischer Gastarbeiter: "Eine Psychotherapie funktioniert nur gut, wenn zwischen Patient und Therapeut eine tragfähige Beziehung entsteht. Da etwa in Griechenland das Vater-Sohn-Verhältnis von der Autorität des Vaters geprägt ist und die Arzt-Patient-Beziehung 'familiären' Charakter hat, erwartet ein griechischer Patient klare Direktiven." Andernfalls bliebe die Behandlung erfolglos. "Wir bezweifeln mittlerweile, dass Psychotherapien unverändert über Kulturgrenzen hinweg angewendet werden können, und fragen daher, welche Elemente transkulturell gültig sind", resümiert Machleidt. Ein Beispiel können die Psychotherapeuten bereits nennen: die Wiederherstellung des Selbstwertgefühls als Ziel einer Behandlung.