Süddeutsche Zeitung, 23.11.1999

Ökumenisches Kirchenasyl im Schwarzwald

Ali Sakiz und die Patres von Furtwangen

Walter Jens macht sich für die Duldung einer fünfköpfigen kurdischen Familie stark

Von Wulf Reimer

Furtwangen, 22. November - Geldgeber sind gern gesehen in Baden-Württemberg. Die Landesregierung versucht, Investoren mit Hilfe einer teuren Imagekampagne anzulocken. Flüchtlinge indes schiebt man lieber ab. Dafür bürgt der Stuttgarter Innenminister Thomas Schäuble (CDU) mit harter Hand. Nachdem sein Kabinettskollege Walter Döring (FDP) jetzt sogar die vollständige "Abschaffung des Individualrechts auf Asyl" gefordert hat, wird das Klima für Ausländer im Südwesten wohl noch frostiger werden. Um so bemerkenswerter ist das ökumenische Kirchenasyl, das eine fünfköpfige kurdische Familie nun schon den zweiten Winter in Furtwangen findet.

Ali Sakiz, 34, hätte im Anschluss an den Militärdienst in seinem Heimatort Kücük Ungüt Köy "Dorfschützer" werden und die PKK bekämpfen sollen. Von türkischen Soldaten bedroht, floh er 1987 in die Schweiz, musste aber bald das Land verlassen und in die Türkei zurückkehren. Gleich nach der Landung in Istanbul wurde er in den Keller einer Polizeistation gebracht, wo man, unter fadenscheinigem Vorwand, einen scharfen Hund auf ihn hetzte und ihn brutal niederschlug. Der gefolterte Familienvater wachte erst in einem Militärhospital wieder auf.

Traumatische Erlebnisse

Im Oktober 1995 gelang Ali Sakiz eine abenteuerliche Flucht zu seiner Frau und den drei kleinen Kindern, die getrennt von ihm in die Bundesrepublik eingereist waren. Drei Jahre später wurden der Asylantrag endgültig abgelehnt und dem traumatisierten Mann Abschiebung angedroht. Dies war für die römisch-katholischen, alt-katholischen und evangelischen Kirchengemeinden in Furtwangen der Anlass, der hilflosen Familie Schutz vor dem Zugriff der Behörden zu gewähren.

Das ökumenische Kirchenasyl dauert bereits länger als ein Jahr. Während vielerorts das Verständnis für die Not von Flüchtlingen schwindet, tickt die Uhrenstadt im Schwarzwald hörbar anders: In ihrem Versteck bei den Patres des Salesianer-Ordens im Don-Bosco-Heim bekommen die Kurden regelmäßig Besuch von ehrenamtlichen Helfern; einige von ihnen gehören zu einem örtlichen Kreis gegen Rassismus und Gewalt, der sich seit Jahren auf den praktischen Fall eines Kirchenasyls vorbereitet hatte.

Wichtig für den Rückhalt in einer breiteren Öffentlichkeit ist außer der protestantischen besonders die katholische Kirchengemeinde. An deren Spitze steht mit Josef Beha ein mutiger Pfarrer, den einige scherzhaft, aber voller Respekt "Papst des oberen Bregtals" nennen. Einer der tatkräftigsten Unterstützer ist Wieland Walther. Der Arzt, der seine Praxis nach 24 Jahren vor kurzem aus Altersgründen aufgegeben hat, kennt die kleine Stadt und ihre Bewohner wie kaum jemand sonst. Ihm sei wegen seines Engagements niemals offene Kritik entgegengeschlagen, berichtet der Mediziner; jene Patienten, die das Asyl ablehnten, hätten "das Thema gemieden". Walther selbst ist von Anfang an überzeugt gewesen, dass Ali Sakiz eine wahre Geschichte erzählt hat über die Torturen unter einem vom Staat zu verantwortenden Terrorismus in der Türkei.

Und deshalb auch hat dieser Arzt so viele andere Menschen von der Notwendigkeit einer raschen Hilfe zu überzeugen vermocht. Walter und Inge Jens, das prominente Tübinger Literaten-Ehepaar, sind aus Solidarität mit den Kurden angereist. Zuerst am Küchentisch im provisorischen Asyl im dritten Stockwerk des Don-Bosco-Heims, von wo ein Verbindungsgang in die Kirche der Salesianer führt, danach vor großem Publikum in einem Gemeindesaal: Inge und Walter Jens verurteilen die Entscheidung der deutschen Ausländerbehörden. "Ein Dach über dem Kopf, mehr ist es ja nicht", verlangt Walter Jens. "Hier sind Menschen bedroht, die in ein Land abgeschoben werden könnten, das die Menschenrechte mit Füßen tritt." Eine Abschiebung wäre eine grobe Verletzung der seit 1951 geltenden Genfer Flüchtlingskonvention. Asyl, sagt der Gräzist Jens, sei ein Ort, von dem nichts geraubt werden könne, also ein sicherer Ort. Nur fühlt sich Ali Sakiz, da er das Heim aus Angst vor den Behörden selten zu verlassen wagt, in seinem Versteck mehr und mehr wie in einem Gefängnis.

Inge Jens blickt aus dem Fenster auf die verschneiten Berge: "Mir dreht sich der Magen um, wenn ich mir vorstelle, die Eltern dürfen nicht aus dem Haus gehen!" Sie erinnert daran, was vor sechs Jahrzehnten mit Verfolgten der Nazis geschehen wäre, wenn sie damals aus Ländern wie der Türkei ausgewiesen worden wären. "Wenn die Türkei Ernst Reuter nicht aufgenommen hätte, wäre er im KZ gelandet." Einig sind sich der Arzt Walther und das Ehepaar Jens, das im Golf-Krieg zwei US-Deserteuren Unterschlupf gewährt hatte und damals von einem Rechtsanwalt in der Nachbarschaft denunziert worden war, dass es an sich schon "schlimm ist", dass es in Deutschland einer solchen Veranstaltung bedürfe, "um einen Menschen vor erneuter Folter in seiner Heimat zu schützen".

Eine Frau meldet sich erregt: "Der Staat ist ganz stark angeknackst, wenn so etwas wie Kirchenasyl überhaupt notwendig ist!" Eine Zuhörerin aus Königsfeld im Schwarzwald schildert den Fall einer Familie syrischer Christen, die nach zehn Jahren zur Ausreise aufgefordert worden sei. "Wir sind verzweifelt." Vielleicht profitieren die Syrer von der kürzlich von den Innenministern getroffenen "Altfallregelung". In Furtwangen dagegen ist kein Ende des Kirchenasyls abzusehen.