Tagesspiegel, 22.11.1999

Nach dem OSZE-Gipfeltreffen:

Die Türkei wird sich Kritik nicht mehr verschließen können

Das Kurden-Problem ist laut OSZE-Charta keine "innere Angelegenheit" mehr

Thomas Seibert

Mit Stolz und Genugtuung haben die Türken die Danksagungen ihrer Gäste nach dem zweitägigen Gipfeltreffen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Istanbul zur Kenntnis genommen. Beim "Gipfel des Jahrhunderts", wie die Türken das Treffen nannten, gab es trotz des Streits zwischen Russland und dem Westen über den Tschetschenien-Krieg eine Einigung; alle Haupt-Dokumente des Gipfels wurden einvernehmlich verabschiedet. Doch eines dieser Dokumente, die sogeannte Sicherheits-Charta, könnte den Gipfel-Gastgeber Türkei schon bald in neue Probleme stürzen: Kernaussagen der auch von Ankara unterzeichneten Charta widerprechen der bisherigen türkischen Linie im Kurdenkonflikt. "Nun kann kein Staat, der sich auf seinem Gebiet einem Problem gegenüber sieht, mehr sagen: Das ist mein innenpolitisches Problem, mischt euch nicht ein", fasste der türkische Staatspräsident Süleyman Demirel höchstpersönlich die Botschaft der Charta zusammen. "Wenn du so etwas unterschreibst, kannst du dich nicht den Ansichten der anderen verschließen." Alle Staaten, die dies nicht beherzigten, isolierten sich so wie Russland im Tschetschenien-Konflikt, betonte Demirel.

Der Präsident hat recht. Die Charta betont ausdrücklich, dass innerstaatliche Konflikte in einem einzelnen OSZE-Land die Sicherheit aller anderen Mitgliedsstaaten gefährden können - erstmals werden so der Souveränität der OSZE-Staaten klare Grenzen gesetzt. Zudem werden Freiheitsrechte für die Minderheiten eingefordert. Die Türkei könnte schon bald mit diesen Passagen der Charta konfrontiert werden. In vier Tagen verkündet das Oberste Berufungsgericht in Ankara sein Urteil im Fall des zum Tode verurteilten PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Und gerade bei Öcalan hat sich die türkische Seite bisher stets Einmischungen von außen verbeten - mit dem Hinweis, beim Kurdenproblem handele es sich um eine innere Angelegenheit der Türkei. Doch nach dem OSZE-Gipfel gelt die Devise: "Es gibt keine inneren Angelegenheiten mehr", kommentiert die Zeitung "Milliyet". "Wenn sogar der Staatspräsident das sagt, ist das schon bemerkenswert", meint der Istanbuler Rechtsprofessor Bakir Caglar.

Seit Jahren wehrt sich Ankara gegen Bemühungen von Öcalans Arbeiterpartei (PKK), den Kurdenkonflikt zu internationalisieren. Aus Sicht des türkischen Staates handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung zwischen einem Staat und einer Terrorgruppe, die einen Teil dieses Staates abtrennen will, und die versucht, dieses Ziel mit Anschlägen und einem Guerrillakrieg zu erreichen. Eine internationale Vermittlung ist nach dieser Position als Einmischung abzulehnen. Die Istanbuler Charta schreibt tatsächlich das Recht jedes Staates fest, sich gegen Terror zu wehren. Dennoch: Mit der neuen OSZE-Charta im Rücken könnte die kurdische Seite ihre Forderung nach einem internationalen Engagement in dem Konflikt verstärken, zumal die PKK offiziell auf Gewalt verzichtet hat, womit sie den Terrorvorwurf entkräften will. Die Türkei könnte also in erhebliche Erklärungsnöte kommen.

Die pro-kurdische Zeitung "Özgür Bakis" streicht heraus, schon in der Vergangenheit habe die Türkei Vereinbarungen über eine Stärkung der Menschenrechte unterzeichnet, ohne dass sich viel verändert habe. Nun müsse das Land zur Istanbuler Charta stehen: Das Dokument werde als "neues Barometer" für die Frage dienen, ob sich Ankara an seine eigenen Unterschriften halte.