Der Bund (CH), 20.11.1999

Trotz riesigen Problemen nach den Beben wächst Ankaras Selbstvertrauen

TÜRKEI / Internationale Solidarität nach den Erdbeben und die Ehre, Sitz des letzten grossen Weltgipfels des Jahrhunderts zu sein: Ankara fühlt sich anerkannt und unterstützt.

BIRGIT CERHA, NIKOSIA

Ein «Rollenmodell» für die gesamte Region, vom Balkan bis weit nach Zentralasien hinein: Dies habe US-Präsident Clinton bei seinem Besuch diese Woche der Türkei zugeschrieben. «Ein Symbol sollen wir sein für Demokratie, Menschenrechte, Säkularismus, freie Marktwirtschaft.» Voll Stolz, schreibt das Massenblatt «Hürriyet», wolle die Türkei diese Herausforderung annehmen.

Image verbessern Als Gastgeber des letzten grossen Weltgipfels im 20. Jahrhundert (der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, vgl. Artikel oben) fühlt Ankara seine wachsende strategische Bedeutung zunehmend auch international anerkannt. Begierig, sein Image als finanziell schwacher, politisch instabiler, permanent von Europa abgewiesener Staat endlich abzuschütteln, spielen die Türken mit ihren diplomatischen, ökonomischen und militärischen Muskeln. Dabei kann ihnen der Schock des zweiten starken Erdbebens in nur drei Monaten nicht einmal so viel anhaben. Die Naturkatastrophen bringen weltweite Sympathie und Finanzhilfe. Innenpolitisch half das Beben von letzter Woche Regierung und Militär, ihr schwer angeschlagenes Prestige wieder aufzumöbeln.

Hilfe klappte diesmal Hatten beim Beben im August die Streitkräfte und die zivilen Behörden bei der Hilfe kläglich versagt und damit das Vertrauen der Bevölkerung zutiefst erschüttert, so reagierten sie nun prompt. «Der Staat schaffte es diesmal», würdigt denn auch «Hürriyet». Die Koalitionsregierung, durch interne Zwiste zusätzlich geschwächt, gewann auf diese Weise dringend benötigtes Ansehen. Freilich betonen Vertreter unabhängiger Hilfsorganisationen, das Ausmass der Katastrophe vom 12. November lasse sich mit jener vom August nicht vergleichen. Damals starben mindestens 17 000 Menschen. Diesmal dürfte die Zahl der Opfer deutlich kleiner als 1000 sein, und auch die Zahl der zerstörten Häuser ist viel geringer. Im August verloren 400 000 Menschen ihre Heime. Ein Grossteil von ihnen wartet immer noch in kältedurchlässigen Zelten auf die von der Regierung versprochenen Fertighäuser. Nun gibt es noch rund 80 000 neue Obdachlose. «Es gibt weltweit keine Zelte mehr. Wir haben das Geld, aber wir können keine Zelte kaufen», umreisst Staatsminister Gemici das derzeit grösste Problem im Katastrophengebiet. Transportminister Öksüz beziffert die durch das Erdbeben der Vorwoche der Volkswirtschaft zusätzlich erwachsenen Schäden auf zehn Milliarden Dollar. Unabhängige Ökonomen halten dies aber für übertrieben. Das Beben vom August hat Schäden von zwölf Milliarden Dollar verursacht. Als Folge davon dürfte die Wirtschaft in diesem Jahr ein Minuswachstum von zwei Prozent erreichen. Weltweite Finanzhilfe könnte der Wirtschaft aber den dringend benötigten Auftrieb geben.

Abkommen mit dem IWF Ökonomen erwarten eine Senkung der Zinsraten als Folge der wesentlich niedrigeren Inflation. Am Bosporus hofft man auf verstärkte Investitionstätigkeit. Ein Standby-Abkommen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF), das noch vor Jahresende abgeschlossen werden soll, wird Ankaras internationale Kreditwürdigkeit wesentlich steigern.