Tagblatt (CH), 20.11.1999

Clinton wertet Türkei auf

Strategischer Partner der USA - Unverzichtbarer Teil Europas

US-Präsident Clinton hat seinen Staatsbesuch in der Türkei vor dem OSZE-Gipfel genutzt, die künftige Rolle der Türkei als «Brücke zwischen den Kulturen» zu stärken.

Jan Keetman/Istanbul

«Die Zukunft der Türkei wird die Zukunft Europas gestalten. Sie können die Welt inspirieren», verkündete er im türkischen Parlament. Das klingt anders, als wenn Europäer sagen, die Türkei müsse sich Europa angleichen und nicht umgekehrt. Die Worte des mächtigsten Mannes der Welt wirkten wie Balsam für den oft gedemütigten türkischen Stolz.

Interessen der USA

In der freundlichen verbalen Verpackung überbrachte der US-Präsident jedoch die für die Türkei wichtige Botschaft, Ankara spiele für die US-Aussenpolitik nach wie vor eine zentrale Rolle. Der in Istanbul zwischen Kasachstan, Turkmenistan, Aserbaidschan, Georgien und der Türkei unterschriebene Vertrag über den Bau einer Pipeline vom Kaspischen Meer über Aserbaidschan, Georgien und die Türkei zum Mittelmeer führt einen Aspekt dieser Bedeutung vor Augen. Er zeigt, wie die türkische Karte im Kaukasus und in Zentralasien zum Trumpf gegenüber Russland werden könnte, das sich bemüht, die Transportwege über sein eigenes Territorium zu lenken und den ökonomischen und politischen Einfluss in seinem alten Hinterhof zu behalten. Zudem hat die Türkei Landgrenzen mit Iran und Irak. Insbesondere die US-Politik gegenüber Irak ist ohne türkische Unterstützung undenkbar. Auch die immer engere Kooperation der Türkei mit Israel liegt im amerikanischen Interesse.

Haken und Ösen

Der amerikanische Zuspruch hat jedoch auch Haken und Ösen für die Türkei. Zum Beispiel verzögert amerikanischer Druck Erdgasgeschäfte der Türkei mit Russland und Iran. Auf diese Projekte, in die sie schon viel Geld investiert hat, ist die Türkei aber angewiesen. Mit Sorge beobachtet sie auch die US-Politik gegenüber Irak. Das endlose Embargo schadet der türkischen Wirtschaft, vor allem aber beunruhigt Ankara, dass Washington die nordirakischen Kurdenführer hofiert. Führte dies zu einem irakischen Bundesstaat mit einem in hohem Masse selbständigen kurdischen Teilstaat, könnte das auch Begehrlichkeiten der eigenen kurdischen Bevölkerung wachhalten.

«Spielzeug Europas»

Die Zusicherung, bevorzugter Verbündeter der Supermacht zu sein, wiegt für die Türkei diese Probleme auf. Ankara ist überzeugt, die Rückendeckung der USA gegenüber dem als übermächtig empfundenen Europa nötig zu haben. «Ohne das spezielle Verhältnis zu den USA wäre die Türkei nur ein Spielzeug Europas», schrieb die proeuropäische Zeitung «Radikal» und fügte hinzu, die EU-Mitgliedschaft sei vorerst nur «ein Traum». An der Verwirklichung dieses Traums arbeitet auch Clinton, wenn er die EU mahnt:«Ein Europa, das ungeteilt, demokratisch und in Frieden lebt, ist nur vollständig, wenn es auch die Türkei einschliesst. Europa ist kein von Bergen und Flüssen begrenztes Stück Erde, sondern eine Idee, in der verschiedene Kulturen und Religionen Platz haben. Diese Idee sind die Menschenrechte und die Demokratie.»

Unermüdlicher Anwalt

Obwohl die schlechte Menschenrechtsbilanz Ankaras Glaubwürdigkeit im Westen schwächt und das verkrampfte Verhältnis zwischen Staat und Religion die Türkei auch der islamischen Welt entfremdet, trat Clinton in der Türkei als unermüdlicher Anwalt der türkischen Brückenfunktion zwischen westlicher und islamischer Welt auf.