Neue Züricher Zeitung, 20.11.1999

Leichte Entspannung im Südosten der Türkei

Die Behörden wollen den Kampf entschlossen zu Ende führen

Zwei Monate nachdem die Kurdische Arbeiterpartei PKK mit dem Abzug aus der Türkei begonnen hat, hofft die Bevölkerung im Südosten, dass daraus ein wirklicher Frieden entsteht. Auch wenn sich in der Stadt Diyarbakir die Lage entspannt hat, gehen die Kämpfe in abgelegenen ländlichen Gebieten aber weiter. Der Staat ist entschlossen, alle PKK-Kämpfer zu «neutralisieren», und stellt sich dem Abzug, den er als taktische Finte sieht, entgegen.

paz. Diyarbakir, im November

Die verschiedenen Gesprächspartner sind sich einig: Die Lage in Diyarbakir, der grössten Stadt im Südosten der Türkei und heimlichen Hauptstadt der Kurdengebiete, hat sich deutlich entspannt. Zwar seien die Kämpfe bereits seit zwei Jahren abgeflaut, doch mit dem Rückzugsbefehl des Führers der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, sei eine neue, entspannte Atmosphäre eingetreten. Das Strassenbild vermittelt den Eindruck von Normalität, der Markt ist gut besucht, und auch nach Einbruch der Nacht schlendern noch viele Leute entlang der Hauptachsen. Einzig die zahlreichen Landrover und gepanzerten Fahrzeuge mit bewaffneten Soldaten und der Lärm der ab und zu vorbeifliegenden Helikopter verraten, dass es sich dennoch nicht ganz um einen Ort wie jeden anderen handelt. Doch ob Taxifahrer oder Bürgermeister, alle geben ihrer Hoffnung Ausdruck, dass der Entscheid der PKK, sich aus der Türkei zurückzuziehen, nicht nur zur gegenwärtigen Entspannung, sondern zu einem dauerhaften Frieden nach dem 15jährigen bewaffneten Kampf führt.

Der Staat zeigt Härte

Die staatlichen Organe zeigen sich vom Aufruf des PKK-Führers Abdullah Öcalan allerdings wenig überzeugt. «Die ziehen sich jeden Winter zurück, es handelt sich lediglich um eine taktische Finesse», sagt Gökhan Aydiner, Gouverneur der sich im Ausnahmezustand befindenden Region. Daher sei der Staat verpflichtet, alles daranzusetzen, bis der letzte Terrorist «neutralisiert» sei, erklärt der Statthalter Ankaras. Allerdings sei es eine Lüge und reine PKK-Propaganda, dass Guerillas, die sich ergeben wollten, von der Armee auf der Stelle erschossen worden seien, ereifert sich Aydiner. Das aktuelle Reuegesetz biete jenen Kämpfern, die den Frieden wirklich wollten, Strafminderung oder gar Straffreiheit an, sofern sich diese ergeben. Damit sei eine Möglichkeit gegeben, um das Terrorismusproblem - so heisst der Kurdenkonflikt im Südosten der Türkei nach offizieller Lesart - endgültig zu lösen.

Der Bürgermeister von Diyarbakir, Feridun Celik, der im April dieses Jahres als Vertreter der prokurdischen Partei Hadep gewählt wurde, wägt im direkten Gespräch seine Worte äusserst vorsichtig ab. Es wird deutlich, dass er sich noch immer davor fürchten muss, dass alle, die eine Lösung der Kurdenfrage wollen - der Bürgermeister benützt dieses Wort, ohne zu zögern -, mit der PKK in einen Topf geworfen werden. Anstatt über angebliche Verbindungen zwischen seiner Partei und jener Öcalans spricht Celik lieber über die alltäglichen Probleme seiner Stadt. In den letzten fünf Jahren sei die Bevölkerung von Diyarbakir von 250 000 Einwohnern auf über eine Million angeschwollen. Zehntausende von Landbewohnern, die entweder von der Armee bewusst aus ihren Dörfern vertrieben wurden oder die sich vor den Kämpfen flüchteten, wohnen nun in den chaotisch wuchernden Aussenquartieren der Stadt. Der Bürgermeister sagt selber, dass die Infrastruktur nur gerade dazu reicht, einen Viertel der Bevölkerung mit den üblichen öffentlichen Dienstleistungen zu versorgen. Die Arbeitslosigkeit liege bei 50 Prozent.

Fortlaufende Menschenrechtsverletzungen

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Individualrechte der Bewohner des Südostens der Türkei, die in der grossen Mehrheit kurdischer Abstammung sind, noch schwerwiegender verletzt werden als in anderen Regionen des Landes. Ankara entschuldigt dies routiniert mit der «Gefahr des Terrorismus». Die gegenwärtige Entspannung scheint kaum zu einer Verbesserung der Lage geführt zu haben. «Wenn man auch Kleinigkeiten wie Beschimpfungen oder Ohrfeigen mitzählt, dann werden noch immer 100 Prozent der in Haft genommenen Personen misshandelt, in zwei Dritteln der Fälle kommt es zu schwerer Folter», sagt der Anwalt Metin Kilavuz, ein Mitglied des türkischen Menschenrechtsvereins IHD. Ein anderer Anwalt, Kenan Sidar, der eine Organisation für Häftlinge und deren Angehörige vertritt, meint sogar, dass in der vergangenen Zeit der Druck auf Gefängnisinsassen zugenommen habe. Die Zustände in den Gefängnissen seien derart schlecht, dass es unter normalen Umständen massenweise zu Hungerstreiks kommen würde. Da die Häftlinge aber den Friedensprozess unterstützen wollten, hätten sich seit der Verhaftung Öcalans im Februar nur noch wenige Protestaktionen ereignet. Diese seien alle zur Unterstützung des Kurdenführers durchgeführt worden oder um die Regierung dazu zu bewegen, auf den Abzugsbefehl der PKK positiv zu reagieren.

Die beiden Menschenrechtsaktivisten halten nichts vom Reuegesetz, das der Gouverneur so anpreist. Der Staat versuche auf diese Weise die Gefangenen zu kompromittieren, sagt Sidar, denn diese müssten ihre ehemaligen Kameraden verraten, um Straffreiheit zu erhalten. Als Verräter seien sie anschliessend selber in Gefahr. Auch haben beide Anwälte von mehreren Fällen gehört, wo reuige Guerillas, die sich den Sicherheitskräften stellen wollten, noch vor Ort erschossen worden sind. Obwohl es sehr schwierig sei, die Fälle konkret zu überprüfen, sei es auffallend, dass trotz einer ganzen Reihe von Todesopfern in den Rängen der PKK im selben Zeitraum kein einziger Soldat verwundet worden sei, meint der IHD-Vertreter. Der Menschenrechtsverein versucht, einen Rapport über solche Vorfälle zu erstellen. Doch die Arbeit gestaltet sich allein schon darum schwierig, weil die Behörden der Organisation seit zwei Jahren verbieten, ein Büro in Diyarbakir zu unterhalten.

Zumindest in der Stadt fühlen sich heute jene sicherer, die noch vor zwei Jahren täglich um ihr Leben fürchten mussten. So ist ein kurdischer Schriftsteller, der aus Furcht mehrere Jahre in Ankara verbracht hatte, wieder zurückgekehrt. Er sei kein Einzelfall, sagt er, mehrere Kollegen seien nach Diyarbakir zurückgekehrt. Die Journalisten von «Özgür Bakis», einer prokurdischen Zeitung, die offen über die Lage im Südosten berichtet, melden zwar, dass sie noch immer bei Recherchen auf dem Land behindert und häufig inhaftiert würden. Doch die Zeiten, wo Mitarbeiter kaltblütig ermordet wurden, seien zum Glück vorbei. 28 Kollegen, unter ihnen 15 Journalisten, mussten über die Jahre mit dem Leben für ihre Arbeit bei der Zeitung bezahlen, die seit 1990 unter immer neuen Namen in Istanbul erscheint. Armee und Geheimdienst werden für diese Taten verantwortlich gemacht, und noch heute ist der Verkauf des Blattes in den Gebieten im Ausnahmezustand auf Anordnung des Gouverneurs hin verboten.

Warten auf wirtschaftliche Entwicklung

Für den Anwalt Kilavuz hat sich mit dem Rückzug der PKK eine bisher einmalige Chance für die türkische Staatsführung ergeben, die diese sinnvoll nutzen sollte. Eine wirkliche Verbesserung im Bereich der Menschenrechte wäre seiner Meinung nach ein wertvoller Schritt. Wenn die Kämpfe aufhören, verliert die Regierung ihre allgegenwärtige Entschuldigung, die Wurzel allen Übels sei der «Terrorismus». Das harte Regime des Ausnahmezustands ist dann nicht mehr zu rechtfertigen. Auch wird wohl ein Teil der vertriebenen Landbevölkerung verlangen, in ihre Dörfer zurückkehren zu dürfen. Der Gouverneur spricht davon, dass dies bereits der Fall sei und der Staat seine Bürger darin unterstütze. Andere gut informierte Quellen wissen allerdings nichts davon.

Die Rückkehr der Dörfler dürfte auch den wirtschaftlichen Druck auf die Städte vermindern. Sowohl für die Rückkehrer als auch für die Stadtbevölkerung braucht es anschliessend aber mehr als nur schöne Erklärungen, um einen wirtschaftlichen Wiederaufbau zu ermöglichen. Nach Ansicht mehrerer Gesprächspartner muss die Regierung endlich über ihren Schatten springen. Bisher vertrat Ankara eisern den Standpunkt, dass es sich bei der PKK um eine Terrororganisation handle und Verhandlungen mit ihr daher ausgeschlossen seien. «Ohne die PKK», meint jedoch der Anwalt Sidar, der auch eine Gruppe von PKK-Kämpfern vertrat, die sich als Zeichen des guten Willens unlängst den Behörden gestellt hatte, «gibt es keinen richtigen Frieden».