Süddeutsche Zeitung, 19.11.1999

Wenn das Wörtchen wenn nicht wär ...

... dürften mehr Flüchtlinge, die schon lange in Deutschland leben, hierbleiben

Von Heribert Prantl

Wenn Briefe einen Sturm entfachen könnten, dann müsste in Görlitz ein Orkan toben und an den dort versammelten Innenministern rütteln. Wer immer in Deutschland mit Ausländer- und Flüchtlingsarbeit zu tun hat, hat geschrieben, appelliert, gefordert, gebettelt: die Bischöfe der katholischen und evangelischen Kirche, die Wohlfahrtsverbände, amnesty international, die Arbeitsgemeinschaften Asyl in der Kirche, Rechtsanwälte, Richter, Pfarrer. Sie warten auf das Signal von Görlitz, auf ein Signal, das den Flüchtlingen in Deutschland, die sich hier eine bescheidene Existenz aufgebaut haben, eine Perspektive gibt und sie vor Verhaftung und Abschiebung rettet - damit es ihnen nicht so ergeht wie den abgeschobenen vietnamesischen Kindern, von denen der Abt des buddhistischen Tempels in Hannover berichtet: "Sie sprechen besser Deutsch als Vietnamesisch und fragen ihre Eltern ständig, wann sie wieder nach Hause, nach Deutschland, fahren."

In Görlitz tagt die Innenministerkonferenz, um über eine Altfallregelung für lange in Deutschland lebende Flüchtlinge zu beraten. Der Grundgedanke auch schon früherer sehr eng gefasster Altfallregelungen, die unter der Regierung Kohl erlassen wurden: Flüchtlinge, die schon lange hier leben, sollen bleiben dürfen. Die allfälligen Streitfragen liegen auf der Hand: Wie lange ist "lange"? Und: Wie sehen die sonstigen Bedingungen aus, die Flüchtlinge erfüllen müssen, um bleiben zu dürfen?

Eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat schon vor einem Jahr Vorschläge entwickelt, die so ausschauen: Familien mit Kindern dürfen bleiben, wenn sie seit Juli 1993 in Deutschland leben. Kinderlose und alleinstehende Flüchtlinge dürfen bleiben, wenn sie seit 1. Januar 1990 hier sind. Dazu kommen weitere "Wenns": Eher selbstverständlich ist die Bedingung, dass kein erheblicher Eintrag im Strafregister vorliegt. Ziemlich problematisch aber ist die Forderung, dass nur bleiben darf, wer sich in wirtschaftlich gesicherter Position befindet. Das bedeutet, dass kein Flüchtling bleiben darf, der Anspruch auf Sozialhilfe oder ergänzende Sozialhilfe hat - unabhängig davon, ob er sie beansprucht. Auf der Basis des Sozialhilfegesetzes wird eine fiktive Berechnung angestellt, ungefähr so: Da lebt eine Flüchtlingsfamilie mit vier Kindern in Frankfurt: Der Vater arbeitet bei McDonalds (einigermaßen gut bezahlte Jobs bekommt man mit dem ungesicherten Aufenthaltsstatus nicht) und verdient 2200 Mark. Die Mutter, so sie das trotz ihrer vier Kinder schafft, hat einen 630-Mark-Job. Dann liegt aber das Familieneinkommen immer noch unter dem Mindestbedarf von etwa 3300 Mark, wie ihn das Gesetz unter Einrechnung der Miete vorsieht. Die Folge, auch wenn die Familie schon lange hier lebt: Ausweisung, Abschiebung. Solche Rigorosität bringt die Wohlfahrtsverbände zur Verzweiflung. Ist es doch gerade das Ausländerrecht, das es den Flüchtlingen so furchtbar schwer macht, sich hochzuarbeiten.

Wenn, wenn, wenn: Die vorgeschlagene Stichtagsregelung schließt Flüchtlinge des Bosnien-Krieges aus, auch Flüchtlinge aus den Staaten, mit denen ein Abkommen zur Rückführung besteht, Vietnam zum Beispiel. Rund der Hälfte der rund 85000 in Deutschland lebenden Vietnamesen droht deshalb die Abschiebung. Bayern will die Sache ganz anders aufziehen: Man will von einer Altfallregelung nur Flüchtlinge aus solchen Staaten profitieren lassen, aus denen nicht sehr viele Flüchtlinge kamen: etwa Syrien, Kongo, Iran, Pakistan. Pro Asyl spricht von "erbärmlicher Kleinmütigkeit" der Vorschläge.

Anwälte, die die Brutalität des geltenden Ausländerrechts kennen wie der Frankfurter Reinhard Marx, sind freilich "schon beinah dankbar für jede Regelung, die mehr ist als gar nichts". Seit einem Jahr, seitdem Rot-Grün eine vorsichtige Regelung in den Koalitionsvertrag schrieb ("Wir wollen gemeinsam mit den Ländern eine einmalige Altfallregelung erreichen") blocken die unionsregierten Länder. Wäre Kohl noch an der Regierung - eine Regelung wäre wohl längst in Kraft. Die Flüchtlinge sind in die Mühlen der Parteipolitik geraten.