Frankfurter Rundschau, 19.11.99

"Kinder leiden am schlimmsten unter dem Krieg"

Der UN-Beauftragte für Minderjährige in bewaffneten Konflikten über Warlords, seinen Einfluss auf Regierungen und über Hoffnung, die man auch an den dunkelsten Orten findet

Furchtbar ist die Bilanz der vergangenen zehn Jahre: Zwei Millionen Kinder kamen in Kriegen ums Leben, sieben Millionen wurden verwundet an Leib und Seele, 20 Millionen sind weltweit auf der Flucht. Man darf nicht verzweifeln über die schrecklichen Zahlen, sagt Olara Otunnu, seit 1996 UN-Sonderbeauftragter für Kinder in bewaffneten Konflikten, "man muss an die Arbeit gehen". Mit Otunnu sprach FR-Korrespondent Ullrich Fichtner in Berlin.

Frankfurter Rundschau: Herr Otunnu, was hat die Konvention den Kindern gebracht in den vergangenen zehn Jahren? Würden Sie sagen, dass sich für sie viel verändert hat?

Olara Otunnu: Die entscheidende Veränderung liegt darin, dass wir mit der Konvention erstmals einen weltweit geltenden Standard gesetzt haben, der nicht nur die Bedürfnisse und das Wohl der Kinder anerkennt, sondern ihnen tatsächlich Rechte einräumt. Das ist von großer Bedeutung. Nun geht es darum, den Text in konkrete, gangbare Schritte zu übersetzen. Wir müssen eine Ära der Umsetzung starten und stehen damit vor der größten Herausforderung dieser Zeit. All die Energie, die wir bisher auf die Ausarbeitung der Konvention, auf ihre Durchsetzung, auf ihre Annahme durch die Staaten angewendet haben, müssen wir jetzt umlenken auf diese aktive, konkrete Übersetzung in die Wirklichkeit.

Sie sind Sonderbeauftragter für Kinder in Kriegsgebieten. Warum wurde dieser Arbeitsbereich ausgegliedert?

Der Grund ist einfach: Kinder leiden am schlimmsten unter dem Krieg. Von den weltweit durch Krieg Vertriebenen sind 20 Millionen Kinder, das sind fast zwei Drittel aller "displaced persons". Kinder leiden auch am meisten unter den Traumatisierungen. Gewiss, Menschen jeden Alters werden traumatisiert in einem Krieg, aber Kindern tragen viel länger und schwerer an den psychischen Folgen. Kinder leiden auch am meisten darunter, wenn Familien zerbrechen. Oder nehmen Sie die Zahl derer, die zu Waisen werden: Der Krieg hat in den vergangenen zehn Jahren eine Million Kinder zu Waisen gemacht. Die Kriegswaffe des sexuellen Missbrauchs trifft vorrangig junge Mädchen. Es gibt sehr viele Gründe zu sagen: Der Krieg trifft die Kinder am härtesten.

Können Sie angesichts der vielen Probleme dennoch Prioritäten definieren?

Ja. Auf der normativen Ebene geht es darum, alle nur irgendwie erreichbaren Gruppen zueinander zu bringen und auf das Ziel der aktiven Umsetzung der Kinderrechte einzuschwören. In der Praxis suche ich möglichst direkt den Kontakt zu den Konfliktparteien, um sie zu Zugeständnissen zu bewegen und ihnen Selbstverpflichtungen abzuverlangen. Ich fordere sie auf, keine Landminen zu verwenden, Kinder nicht als Soldaten zu rekrutieren...

...aber haben Sie in ihrem Amt genügend Möglichkeiten, um Druck auszuüben?

Nun, man muss an die Schlüsselfiguren herankommen und versuchen, Einfluss auf sie zu gewinnen. Sei es über die Regierung, sei es über die Medien, sei es über die vielen kleinen nationalen oder die großen internationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen oder die Europäische Union. Niemand soll sich darüber täuschen, dass wir keinen Einfluss auf die Führer von Kriegsparteien ausüben könnten: Wir müssen sie diesen Einfluss nur endlich wirklich spüren lassen! Deshalb appelliere ich an alle Regierungen, an den UN-Sicherheitsrat, an die Europäische Kommission: Nutzt Eure Möglichkeiten, Eure Verbindungen, Euren Einfluss für den Schutz der Kinder.

Welche Erfahrungen machen Sie bei der Begegnung mit den Warlords in den Krisenregionen? Hören die Ihnen überhaupt zu?

Es ist sehr interessant, dass ich bisher noch kein einziges Mal auf eine Armeeführung oder eine Rebellengruppe gestoßen bin, die meine Vorschläge rundheraus abgelehnt hätte. Bisher hat noch keiner zu mir gesagt: Das geht uns nichts an, wir sind anders, wir haben eigene Regeln, unsere eigene Logik, wir haben mit Menschenrechten nichts am Hut - nein, das habe ich noch nie erlebt. Interessant ist daran, dass dieser humanitäre Imperativ tatsächlich nach und nach allgemein anerkannt zu werden scheint. Ich kann zu meinen Gesprächspartnern, wo auch immer, sagen: Du musst etwas tun, sonst ändert sich nichts. Du musst dafür sorgen, dass die Kinder geschützt werden. Und bislang hat mir niemand das Recht bestritten, so zu reden. Was ich häufig zu hören bekomme ist: "Die Berichte über unser Tun hier sind übertrieben, wir missbrauchen Kinder gar nicht als Soldaten..." Und sehen Sie - das ist ein Fortschritt! Denn wenn die Beteiligten glauben, sich auf diese Weise verteidigen zu müssen, haben sie die humanitären Grundlinien schon akzeptiert und beziehen sich auf sie. Keine Gruppe, nicht die Farc in Kolumbien, nicht die LTTE in Sri Lanka, nicht die RUF in Sierra Leone, nicht die RCD in Kongo, hat bislang bestritten, dass diese Standards auch für sie gelten, keine Gruppe sagt: Deine Menschenrechte gelten nicht für uns. Das ist ein großer Fortschritt.

Die Aufgabe, mit der Sie betraut sind, wird häufig als Dritte-Welt-Problem diskutiert. Haben Sie Schwierigkeiten, westliche Regierungen oder die EU von Ihren Anliegen zu überzeugen?

Nein. Gerade eben war ich beim OSZE-Gipfel in Istanbul und habe dort einen Zehn-Punkte-Plan vorgestellt, wie die OSZE in ihrem Bereich für den Schutz von Kindern aktiv werden könnte. Denn es ist doch schließlich so: Wir reden hier auch über Kosovo, wir reden über Bosnien, wir reden über Tschetschenien, wir reden über die Türkei, über Irland, Tadschikistan, Georgien - in all diesen Ländern brauchen Kinder Schutz.

Haben Sie den Eindruck, dass die europäischen Regierungen diese Botschaft hören wollen?

Ich hoffe es sehr. Neulich war hier in Berlin eine Konferenz über Kinderrechte. Und alle Redner haben sich ausschließlich Gedanken gemacht über die Lage von Kindern in Indien, in Afrika, weit weg. Aber wir haben zum Beispiel auch alarmierende Erkenntnisse darüber, dass Jugendliche aus Europa, auch aus Deutschland, auch aus der Schweiz, auch aus Großbritannien gezielt als Söldner angeworben werden für die Kriege unserer Zeit. Es ist ein weltweites Problem, dem keine Region entkommt. Nehmen sie die vertriebenen Kinder. Sie kommen dieser Tage aus Kosovo, aus Bosnien, aus Georgien, also aus Europa selbst.

Nun ist die Bilanz nach zehn Jahren Konvention und drei Jahre nach Ihrem Amtsantritt nicht eben glänzend. Woher nehmen Sie die Energie für den Kampf um die Rechte der Kinder?

Ich habe das Glück, selbst an den dunkelsten Orten immer wieder ganz außergewöhnlichen Menschen zu begegnen. Menschen, die niemand kennt und von denen nie jemand hören wird, die aber Unglaubliches leisten. Sie sind es, die mir Hoffnung darauf machen, dass sich die Dinge zum Guten ändern könnten. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel. Als ich jüngst Albanien und Mazedonien besucht habe, war das Beeindruckendste für mich nicht unbedingt die Arbeit der internationalen Helfer, auch wenn deren Arbeit durchaus beeindruckend war, nein: Es waren die Familien, denen ich begegnet bin, wirklich arme Familien, die nichts mehr übrig hatten und nichts zu verteilen, die aber jedem, der in Not war, die Tür öffneten und ihn aufnahmen. Oder in Burundi und Ruanda, dort bin ich Frauen begegnet, die die furchtbaren Pogrome dort erlebten und die die schlimmsten Dinge sehen mussten. Ihnen wurden die eigenen Kinder aus den Armen gerissen und getötet, zum Teil von den eigenen Verwandten. Einige dieser Frauen haben von da an ihr Leben den überlebenden Kindern verschrieben, allen Kindern, egal ob Hutu oder Tutsi. Die Großzügigkeit und Wärme, die Freundlichkeit dieser Frauen macht Mut. In Sudan habe ich eine aus ihrem Dorf vertriebene Frau mit ihren Kindern getroffen. Diese Familie war, stellen Sie sich das vor, bereits in der vierten Generation hintereinander von Vertreibung durch Krieg betroffen, vier Generationen mussten immer wieder fliehen. Und diese Frau, sie hat nicht von Hass gesprochen. Sie sagte zu mir: "Sagen Sie der Welt und unseren Führern: Wir wollen nur Frieden und wir wollen, dass unsere Kinder zur Schule gehen können." Solche Menschen sind es, die mir Mut machen.