Volksblatt Würzburg, 19.11.99

Abschiebung - Flecken auf dem weißen Kittel

Menschenrechtsbeauftragte deutscher Ärztekammern beklagen Asylpraxis

BERLIN (EPD) · Die "Schnellgutachten von unzureichend ausgebildeten Ärzten" des polizeiärztlichen Dienstes in Berlin beschäftigen den Menschenrechtsbeauftragten Torsten Lucas schon länger.

VON LUKAS PHILIPPI

Dienstag, 28. Juli 1998: An diesem Tag geht alles sehr schnell. Der 16-jährige Kurde Burhan sitzt seit mehreren Wochen im Berliner Abschiebegewahrsam. Am Vormittag besucht ihn sein Rechtsanwalt in Begleitung eines Arztes. Das Ergebnis der medizinischen Untersuchung: der seit fast zwei Jahren in Berlin lebende Burhan sei psychisch krank, Haft unfähig und müsse stationär behandelt werden. Verletzungen am Körper verweisen auf mögliche Selbstverstümmelungsversuche.

Der Anwalt Burhans beantragt eine einstweilige Anordnung beim Verwaltungsgericht, um die drohende Abschiebung wegen Reiseunfähigkeit seines Mandanten zu verhindern. Der Antrag wird wenige Stunden später abgelehnt. Begründung: ein Polizeiarzt habe Burhan nachträglich untersucht und dessen Reisefähigkeit festgestellt. Der Junge wird noch in der Nacht in hilflosem Zustand nach Izmir abgeschoben.

Für die Berliner Ausländerbehörde ist der Fall damit erledigt. Für Torsten Lucas dagegen nicht. Der 36-jährige Kinderarzt ist gemeinsam mit der Internistin Ulla Peitz Menschenrechtsbeauftragter der Berliner Ärztekammer.

Die "Schnellgutachten von unzureichend ausgebildeten Ärzten" des polizeiärztlichen Dienstes in der Bundeshauptstadt beschäftigen ihn schon länger. Sie stünden oft in "eklatantem Widerspruch zu sorgfältig erstellten Gutachten behandelnder Fachärzte". So würden Traumatisierungen von Flüchtlingen als "Befindlichkeitsstörungen bagatellisiert oder gänzlich bestritten".

Mit seinem Urteil steht Lucas nicht allein: Das Berliner Verwaltungsgericht hat dem polizeiärztlichen Dienst mit Blick auf seine Gutachten ebenfalls Inkompetenz bis hin zu Kunstfehlern attestiert. Am Wochenende steht das Thema auch auf der Tagesordnung eines Treffens aller neun Menschenrechtsbeauftragten der deutschen Ärzteschaft in Bonn. Ziel der Tagung ist es in erster Linie, die verschiedenen Arbeitsschwerpunkte kennen zu lernen.

Die Berliner Ärztekammer kann dabei auf die längste Erfahrung zurückschauen. Bereits 1995 griff sie eine entsprechende Forderung von Amnesty International auf und ernannte einen Menschenrechtsbeauftragten. In Briefen setzen sie sich für verfolgte Kollegen im Ausland ein, deren Schicksal dann häufig auch von Amnesty International aufgegriffen wird. Oder sie reisen, wie Lucas, schon einmal als Prozessbeobachter in die Türkei, wenn Ärzte, die Folteropfer behandeln, vor Gericht stehen.

Arbeit ist genug da, und sie wird erst nach Dienstschluss erledigt. Lucas sieht sich dabei auch als Ansprechpartner für Kollegen, die etwa an Zwangsabschiebungen beteiligt sind, "unter Druck stehen" - und damit oft gegen ihr eigenes Berufsethos verstoßen. Angesichts der Vielzahl von Anfragen aus dem In- und Ausland wundert sich der Mediziner, dass in einigen Landesärztekammern noch immer kein Bedarf für einen Menschenrechtsbeauftragten gesehen wird.

Gerade in Deutschland seien sie unmittelbar gefordert. So verstoßen seiner Ansicht nach die von Deutschen Ärztetagen bereits mehrfach kritisierten Bestimmungen des Asylbewerberleistungsgesetzes gegen "grundlegende Prinzipien medizinischer Ethik".

Das Gesetz dränge Ärzte zu einer Ungleichbehandlung ihrer Patienten, die von deren Aufenthaltsstatus erklärt werde, beklagt Lucas. Vergütet wird nur noch die Versorgung bei akuten Erkrankungen oder bei Schmerzzuständen. In Berlin haben sich deshalb Ärzte zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, die Menschen ohne Aufenthaltsstatus behandeln.