Berliner Zeitung, 17.11.99

Washingtons strategischer Hebel am Bosporus

Roland Heine

So viel Lob s des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton dürften der türkische Staatschef Süleyman Demirel und sein Premier Bülent Ecevit kaum erwartet haben. Gleich zum Auftakt seines Türkei-Besuches wies Clinton die internationale Kritik an der Politik Ankaras demonstrativ zurück, indem er der Regierung bescheinigte, sich in den vergangenen Jahren mit Erfolg für die Einhaltung der Menschenrechte eingesetzt zu haben. Vor allem auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit seien deutliche Fortschritte erzielt worden. Die EU-Staaten drängte Clinton, endlich alle Bedenken zurückzustellen und die Türkei zügig in die Union aufzunehmen. Berichte von Organisationen wie Amnesty International, wonach die Inhaftierung und Folterung Oppositioneller nach wie vor üblich sind, überging der Präsident ebenso wie die Tatsache, dass die Unterdrückung der Kurden nur modifiziert, nicht aber beendet wurde.

Der Grund für den offenen amerikanischen Druck auf die EU-Staaten, von denen die meisten die Türkei als Unsicherheitsfaktor betrachten, liegt in den strategischen Interessen der USA. Aus Sicht der fernen Weltmacht ist die Türkei ein unverzichtbarer Verbündeter an der Schnittstelle mehrerer wichtiger Regionen - dem Balkan, dem Nahen/Mittleren Osten sowie dem Kaukasus.

"Gemeinsam die Oberhand behalten"

Bereits der türkische Nato-Beitritt 1952 kam vor allem auf Drängen der USA zu Stande. Schon damals entsprach die innere Verfassung des Landes nicht den vom Westen sonst propagierten Werten von Demokratie und Menschenrechten, wie sie auch in der Nato-Charta verankert sind. Die Aufnahme in das Bündnis, so formuliert es der heutige amerikanische Vize-Außenminister Strobe Talbott, "geschah hauptsächlich deswegen, weil die Türkei eine gemeinsame Grenze mit der Sowjetunion hatte". Mit dem Zerfall der UdSSR im Jahre 1990 veränderte sich die der Türkei zugedachte Rolle. Das Land, erklärt Talbott, werde nun gebraucht, um "gemeinsam die Oberhand zu behalten in dem Kampf, der an die Stelle des Kalten Krieges getreten ist - dem Kampf zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen Wohlstand und Armut".

Konkret wird die Türkei aus Sicht des Industrielandes Nummer eins vor allem als machtpolitischer Brückenkopf in unmittelbarer Nähe der rohstoffreichen Regionen rund um den Persischen Golf und das Kaspische Meer benötigt. So wäre ohne die Türkei die langjährige US-Politik der "doppelten Eindämmung" gegenüber Irak und Iran nicht möglich gewesen, die türkische Militärbasis Incirlik war und ist der entscheidende Ausgangspunkt für Luftangriffe der USA auf Ziele in Nordirak. Um in der Türkei wegen der negativen ökonomischen Folgen der Konfrontation mit dem Nachbarn Irak keine Misstöne aufkommen zu lassen, sprangen die USA in der Vergangenheit wiederholt mit Finanzspritzen ein.

Die EU-Mitgliedschaft

Nicht weniger wichtig ist die Türkei für die USA, um auf die südlichen Republiken der ehemaligen UdSSR direkt einwirken und den Einfluss Moskaus zurückdrängen zu können. Die meisten Völker der Region sind sprachlich und kulturell mit den Türken eng verwandt, das Staatsgebiet der Türkei bietet westlichen Unternehmen die sicherste Trasse zum Abtransport aserbaidschanischen Öls oder turkmenischen Gases. Ein Nato-Beitritt Georgiens oder Aserbaidschans mag derzeit zwar noch unwahrscheinlich erscheinen, entsprechende Ersuchen werden in Tbilissi und Baku immerhin bereits debattiert. Im Falle des Falles wäre die Türkei als einziges angrenzendes Nato-Mitglied besonders gefragt.

Durch eine baldige EU-Mitgliedschaft des Landes hoffen die USA vor allem jene innertürkischen Kräfte zu stärken, die Positionen im Sinne der USA und der Nato vertreten. Vor allem die Amtszeit der islamistisch geführten Regierung Erbakan 1996/97 hatte in Washington zu großer Aufregung geführt, zumal Erbakans erster Auslandskontakt dem Iran galt. Für einige Zeit schien es damals, als gerate die Hauptstütze der USA, das Nato-orientierte, aber mehrheitlich keineswegs demokratisch gesonnene Offizierskorps, in eine gefährliche Isolation, Putschgerüchte machten die Runde.

In den meisten Staaten der EU reagierte man in der Vergangenheit bereits mit Verärgerung auf den amerikanischen Druck, man verwies auf die problematische Menschenrechtslage in der Türkei. Doch die ist nicht hinderlich, wie fortgesetzte Rüstungsgeschäfte westeuropäischer Länder mit Ankara zeigen. Für viele EU-Staaten wäre eine baldige EU-Mitgliedschaft der Türkei vielmehr vor allem ein innenpolitisches Problem, da eine Aufnahme in die Union auch Freizügigkeit für die fast 65 Millionen türkischen Staatsbürger bedeuten würde.