Die Welt, 27.10.99

Die EU in der türkischen Zwickmühle

Die Beitrittsperspektive für Ankara wird kommen, doch wachsen die Zweifel

Von Nikolaus Blome

Brüssel - In der Europäischen Union mehren sich die massiven Zweifel, ob das geplante Beitrittsangebot an die Türkei die richtige Strategie ist. Zugleich wächst in Brüssel die Erkenntnis, dass selbst ein in weiter Zukunft liegender Beitritt der Türkei sich ohnehin gegen die weit verbreitete Ablehnung in der EU-Bevölkerung durchsetzen ließe.

Gemeinsamer Nenner aller Einschätzungen in den EU-Regierungen und den zuständigen Stellen der EU-Kommission ist, dass man in einer Zwickmühle steckt. Wenn der Türkei trotz aller Ankündigungen - auch gerade durch die rot-grüne Bundesregierung - beim EU-Gipfeltreffen im Dezember der Kandidatenstatus nicht verliehen wird, bräche sofort eine schwere Krise der Beziehungen aus. Die Türkei könnte sich dann endgültig von Europa abwenden, so EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Dem Land dagegen jetzt die Kandidatenwürde zu verleihen, aber in einigen Jahren mit den eigentlichen, politisch extrem heiklen Grundsatzvorbehalten herauszurücken - das könnte dann freilich eine noch viel größere Krise heraufbeschwören.

Entschieden haben sich die EU-Kommission und Mitgliedsstaaten dennoch für den ersten Weg - allen Beteiligten steckt "Luxemburg" noch in den Knochen. Dort kam es beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im Dezember 1997 zum Eklat: Er werde sich nicht mit "Folterknechten" an einen Tisch setzen, erklärte der damalige Ratspräsident Jean-Claude Juncker. Trotz aller Versprechungen seit 1963 sei die Türkei kein Kandidat für den EU-Beitritt. Die türkische Regierung reagierte mit wütenden Attacken, vor allem die "Herrenmenschen" in Deutschland im Visier, wie Ankaras damaliger Premier Mesut Yilmaz tönte. Zwei Jahre brauchte es, bis sich die Beziehungen wieder halbwegs normalisiert hatten. "Das darf sich nicht wiederholen", heißt es in Brüssel.

In der entscheidenden Sitzung der 20-köpfigen EU-Kommission gab allein der niederländische EU-Kommissar Frits Bolkestein seine offene Ablehnung dieses Plans zu Protokoll. In einer kontroversen Debatte habe sich aber Verheugen durchgesetzt, der derzeit keinen anderen Ausweg sieht, als die Türkei spürbar aufzuwerten. Eine ganze Reihe anderer Kommissare lägen wie EU-Handelskommissar Pascal Lamy eigentlich auf Bolkesteins "Anti-Linie". Sie hätten sich aber nicht zu Wort gemeldet - mangels Alternative und weil sie glaubten, dass Verheugens Plan für den Dezember-Gipfel in Helsinki ohnehin nicht mehr zu stoppen sei.

"Auch wenn das Land jetzt zum Kandidaten gemacht wird, wird es mit dem Beginn von konkreten Beitrittsverhandlungen vermutlich noch Jahre dauern", beschwichtigt Verheugen immer wieder. Die EU werde um keinen Preis davon abgehen, dass Ankara zuvor politische Bedingungen erfüllen müsse: Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Trennung von Militär und Politik, friedliche Lösung des Kurdenkonflikts. Nur wenn die EU der Türkei eine echte Perspektive für den Beitritt eröffne, würden sich in dem Land die fortschrittlichen, westlichen Kräfte durchsetzen - was klar im Interesse der Europäer sei.

So laufen derzeit alle Wetten in Brüssel darauf, dass die Türkei im Dezember zum Beitrittskandidaten erklärt wird. Konservative und einige Sozialdemokraten haben es zwar unter deutscher Führung im Europaparlament vor kurzem geschafft, in einer Entschließung dieses Vorhaben rundheraus abzulehnen. Aber selbst, wenn: Erst bei der Abstimmung über einen wirklichen Beitritt können die Abgeordneten ernsthaft mitentscheiden.

So ruhen die Hoffnungen der Skeptiker in Brüssel auf den letzten drei Mitgliedsstaaten, die noch Vorbehalte gegen die Aufwertung der Türkei haben: Griechenland, Schweden und Österreich. Die Griechen wären mit einigen türkischen Gesten bei schon jahrelang dauernden Gebietsstreitigkeiten zufrieden. Die Schweden wünschen sich Signale bei den Menschenrechten. Die Österreicher dagegen haben ein innenpolitisches Problem: Sollte es nach dem Wahlerfolg der fremdenfeindlichen Rechtsaußenpartei Jörg Haiders bis zum EU-Dezember-Gipfel in Helsinki keine neue Regierung geben, würde sich ein dann noch amtierender Kanzler Klima bestimmt nicht mit der Anerkennung des türkischen Kandidatenstatus hervortun wollen. "Das kann er sich im Wahlkampf gegen Haider dann auf keinen Fall leisten", so österreichische EU-Kreise. "Das wird dann sehr kitzlig in Helsinki."

Ankara und der europäische Maßstab

Die Türkei ist eines der ältesten Mitglieder im Europarat, sie hat die europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet und steht insofern offiziell für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit ein. Zugleich ist sie aber das Land, aus dem die meisten Klagen beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof des Europarats in Straßburg eingereicht werden. Übergriffe und Folter in Polizeigewahrsam und Gefängnissen sind ebenso Alltag in der Türkei wie Einschränkungen der Pressefreiheit und Unterdrückung von Minderheiten, besonders der Kurden. Klaglos nimmt die Türkei die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs entgegen, sie zahlt meist ohne Verzug die verfügten Entschädigungen an Opfer von Übergriffen oder deren Hinterbliebene. Schwerer tut sie sich mit der Umsetzung der ebenfalls immer wieder von den Richtern angeordneten rechtsstaatlichen Reformen. Als exemplarisch gilt der Umgang mit der alten Forderung Europas nach einer politischen Lösung der Kurdenfrage: Es wird bestritten, dass es so etwas wie eine "Kurdenfrage" überhaupt gebe; Ankara spricht von "Terrorbekämpfung" und rechtfertigt auch unangemessene eigene Gewalt- und Unrechtsakte mit dem Terror der PKK. Verschiedene Gummiparagrafen richten sich gegen Separatismus, Terrorismus und Verunglimpfung staatlicher Institutionen, sie ermöglichen den politischen Missbrauch der Justiz gegen praktisch jede missliebige Bewegung im Lande. Auch dafür dienen höhere Sicherheits- oder Verteidigungsinteressen als Begründung. Reformansätze gibt es, doch werden sie immer wieder vom Militär und von Nationalisten konterkariert oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert. Die "Verwestlichung" der Türkei wird bei allen proeuropäischen Erklärungen auch aus Furcht vor einem Erstarken des politischen Islamismus eher zurückhaltend betrieben. wid

Informationen über die türkischen Beitrittsaussichten im Internet: http://www.europa.eu.int/comm/enlargement/turkey/rep-10-99/index.htm

Unser Buchtipp dazu: "Die Türkei - Eine Herausforderung für Europa" von Plattner, Hans