Die Welt, 27.10.99

Messlatte Menschenrechte

Die Lage in der Türkei soll sich nächstes Jahr nachprüfbar verbessert haben - fehlen nur noch die Kriterien

Bild: Man nennt sie die "Samstags-Frauen". Sie lassen sich nicht einschüchtern, auch nicht von einer Übermacht Polizisten. Jeden Samstag demonstrieren sie gegen das Verschwinden ihrer Angehörigen und gegen Menschenrechtsverstöße in ihrer Heimat. FOTO: DPA

Von Hans-Jürgen Leersch

Die Türkei und die Menschenrechte - das ist für die deutsche Politik nicht erst seit der rot-grünen Koalition ein zentrales Thema. Dass die Situation in dem Land, das in einem Jahr möglicherweise 1000 deutsche Leopard II-Panzer kaufen möchte, nicht zum Besten steht, machte am Dienstag die Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen deutlich: Danach hat die türkische Armee allein bei Aktionen gegen die Kurdenpartei PKK in den vergangenen 15 Jahren 40 000 Menschen getötet.

Die Bilanz des Grauens setzt sich fort: 3428 kurdische Dörfer sind nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker zerstört worden, 2,5 Millionen Menschen wurden vertrieben. Außerdem habe die türkische Armee bei Einsätzen im Nordirak viele mit deutscher Hilfe wiederaufgebaute Dörfer von Kurden und Christen zerstört. Die Politik der Bundesregierung, die den Einsatz deutscher Soldaten auf dem Balkan mit Verletzung von Menschenrechten begründe, werde unglaubwürdig, wenn sie jetzt der Türkei Waffen liefern wolle.

Der Grünen-Abgeordnete Cem Özdemir, selbst türkischer Abstammung, weist darauf hin, dass nicht einmal der türkische Justizminister wisse, was in den Gefängnisssen des Landes passiere. Die Haftanstalten führten ein Eigenleben, klagt der Abgeordnete. Er sei skeptisch, ob sich die Menschenrechtslage in den kommenden zwei Jahren verbessern werde.

Aber genau diese Besserung hat die rot-grüne Koalition zum Maßstab erhoben für den Fall, dass die Türkei das große Panzergeschäft mit Deutschland machen will. Nachprüfbar solle sich die Menschenrechtslage bis dahin verbessert haben, so der Beschluss der Koalitionsrunde vom Montag abend in Berlin. Doch was ist nachprüfbar, und was ist überhaupt eine Verbesserung der Menschenrechtssituation? Die rechtlichen Bestimmungen in Deutschland geben darüber keine Auskunft: Das Grundgesetz verlangt nur eine Genehmigung von Waffenexporten durch die Regierung. Die 1982 beschlossenen und bis heute geltenden Richtlinien für den Bundessicherheitsrat verlangen in der Präambel, Deutschland solle Rüstungsexporte begrenzen und damit "einen Beitrag zur Sicherung des Friedens in der Welt leisten".

Bereits seit längerem wird in der Bundesregierung - auf Druck der Grünen - über eine Neufassung der Richtlinien verhandelt. Künftig soll in der Präambel als Ziel von Rüstungsexporten auch in Nato-Länder die Formulierung aufgenommen werden, dass durch Lieferungen "ein Beitrag zur Sicherung des Friedens, der Menschenrechte und einer nachhaltigen Entwicklung" geleistet wird. Grünen Menschenechtsexperten wie der Abgeordneten Claudia Roth geht der Entwurf nicht weit genug: Sie möchte, dass die Einhaltung der Menschenrechte Voraussetzung für jeden Waffenexport ist und diese Formulierung nicht allgemein in der Präambel erscheint, sondern als konkrete Bedingung bei jedem Waffengeschäft strikt zu prüfen ist.

Ein Land würde dann die Menschenrechte verletzen, wenn Vorwürfe dieser Art in EU-, Europarats- oder Nato-Berichten enthalten wären. Weitere Kriterien für Frau Roth, die gegen Waffenexporte sprechen würden: Die Streitkräfte unterliegen keiner strikten rechtsstaatlichen Kontrolle, und in dem Empfängerland würde ein Missverhältnis zwischen Militärausgaben und Geldern für soziale Zwecke bestehen. Würden diese Forderungen Realität, würde die Türkei keinen einzigen deutschen Leopard II-Panzer kaufen dürfen.

Doch die Koalition, die "nachprüfbare" Verbesserungen in der Menschenrechtslage fordert, hat sich die Kriterien von Frau Roth nicht zu eigen gemacht. Eigentlich hat die Koalition noch gar keine Kriterien, wie sie die Fortschritte in der Menschenrechtslage messen will. SPD-Fraktionschef Peter Struck: "Es macht keinen Sinn, jetzt darüber schon konkret zu spekulieren, was das im einzelnen heißen mag. Fest steht, dass wir Fortschritte bei der Verbesserung der Menschenrechtslage erwarten." Die bisherige Menschenrechtslage müsse sich jedenfalls "deutlich verbessern", verlangt Struck, der ahnt, in welches Dilemma die Koalition geraten dürfte, wenn sie über das große Waffengeschäft zu entscheiden haben sollte.

Auch Kerstin Müller, die Vorsitzende der Grünen-Fraktion, kann nicht mit konkreten Angaben weiterhelfen: "Die Bundesregierung wird entscheiden, ob sich die Menschenrechtssituation verbessert hat oder nicht." Sollte sich im Vergleich zu heute nichts wesentlich verändern, werde die Türkei keine Panzer erhalten. Was "wesentlich" ist, bleibt offen.

Die Opposition steckt natürlich auch in diesem Dilemma. Immerhin hatte CSU-Vize Horst Seehofer am Montag Kriterien entwickelt: Die Türkei lebe in größten Spannungen mit ihren Nachbarn, das Militär sei ohne jede politische Kontrolle, die Folter und die Zwangsverheiratung von Jugendlichen seien nicht abgeschafft, kritisierte Seehofer, der seitdem als Gegner des Panzergeschäfts angesehen wird.

Seehofer sei jedoch nur verkürzt wiedergegeben worden, stellt CSU-Landesgruppenchef Michael Glos einen Tag später fest. Glos ist Befürworter des Panzergeschäfts, fordert aber ebenso wie die Regierung Verbesserungen der Menschenrechtslage. Glos sagt, Seehofer habe nur darstellen wollen, dass er die Lieferung der Panzer mit der Bedingung verknüpfe, dass die Türkei für mehr Menschenrechte sorgen soll und nennt ähnliche Bedingungen, insbesondere einen besseren Minderheitenschutz: "Es ist unbestritten, dass die Türkei noch viele Fortschritte machen muss."

Dennoch ist Glos damit weniger skeptisch als CDU-Chef Wolfgang Schäuble, der die Lieferung des Testpanzers an die Türkei befürwortet, sich beim großen Waffengeschäft jedoch abwartend zeigt. Doch glaubt Schäuble daran, dass die Chancen auf eine Verbesserung der Lage in der Türkei derzeit besonders gut sind und will "die Kräfte ermutigen, die an der Lösung des Kurden-Problems interessiert sind". Glos wendet ein, dass die Lage in der Türkei nicht alles sei, was die Politik zu bedenken habe: "Es geht auch darum, die Rüstungsindustrie am Leben zu halten."

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