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Was ist schon ein Mord

In der Türkei trauern die Spitzen des Staates um einen Publizisten - die Täter müssen nicht fürchten, ermittelt zu werden

Von Wolfgang Koydl

Istanbul, 25. Oktober - Ehre, wem Ehre gebührt: Die Herren Offiziere in ihren Parade-Uniformen werden schon gewusst haben, warum sie ausgerechnet einem Zivilisten salutierten, was in der Dienstvorschrift nicht vorgesehen ist. Denn eigentlich war der soignierte ältere Herr mit dem gepflegten Schnurrbart ein Pensionär, der seine Zeit mit der Leitung eines Vereins verbringt.

Aber Yekta Güngör Özden ist kein gewöhnlicher Rentner, und der Verein, dem er vorsteht, ist keine gewöhnliche Organisation. Bis vor einem Jahr war Özden Vorsitzender des Obersten Gerichtes der Türkei, und nun leitet er den "Verein für Atatürks Gedankengut". Hier wird die heilige, reine Lehre des Staatsgründers vor Verunreinigungen und vor allem vor Veränderungen bewahrt.

Bei der Beerdigung des bei einem Bombenanschlag getöteten Hochschulprofessors und Zeitungskolumnisten Ahmet Taner Kislali am vergangenen Wochenende in Ankara jedenfalls war Özden eine der wichtigsten Figuren, ebenso wie die beiden obersten Ankläger der Republik, Nuh Mete Yüksel und Vural Savas. Diese beiden folgten der Zeremonie Händchen haltend. Gut 3000 Offiziere waren hierher abkommandiert worden, sie verwandelten den Staatsakt in der Kocatepe-Moschee der Hauptstadt in eine militärische Show.

Staatspräsident Süleyman Demirel und Regierungschef Bülent Ecevit waren zwar auch gekommen, doch sie wurden von der Trauergemeinde als verweichlichte Politikaster ausgepfiffen. Denn dies sollte nicht irgendeine Feierstunde der Republik Kemal Atatürks werden; dies sollte die Stunde des "tiefen Staates" sein, wie in der Türkei die wahren Machthaber genannt werden, die gemeinhin im Dunkeln bleiben: die Generäle und die Gouverneure, die Staatsanwälte, die Richter und die hohen Beamten.

Der Fall des Mörders Agca

Es mag furchtbar klingen, aber der Tod des ideologischen Mitstreiters Kislali hätte für die kemalistische Elite der Türkei zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können. Denn das Erdbeben im vergangenen August hatte die Glaubwürdigkeit des Staates und der Streitkräfte gleichermaßen erschüttert. Außerdem beginnen ihm die Feinde davonzulaufen, welche dieser Staat so dringend zum Überleben braucht: Die rebellischen Kurden wollen ihre Waffen niederlegen, die niederträchtigen Europäer möchten die Türkei in ihren Club einladen.

Der Mord sollte nun die verunsicherten Kader solidarisieren und den Blick auf das Feindbild erneut schärfen: Als Verdächtige werden pauschal und vage Islamisten, die muslimische Tageszeitung Akit, der iranische Geheimdienst oder die Hizbullah genannt, jener türkische Namensvetter der libanesischen Gotteskrieger. Allerdings kann noch niemand erklären, wie sie die komplizierte Höllenmaschine bauen konnten, welche Kislali zerriss, als er sie von der Motorhaube seines blau-grauen VW Passat entfernen wollte.

Beweise für eine Beteiligung von Islamisten gibt es freilich ebensowenig wie für die verstohlen vorgebrachte Theorie, wonach der Staat selbst den Mordauftrag erteilt haben soll, weil er einen von den Fundamentalisten getöteten Märtyrer schaffen wollte. Noch aberwitziger ist die These von Dogu Perincek, dem soeben aus der Haft entlassenen Chef der winzigen "Arbeiterpartei". Er sieht die Nato am Werk, weil angeblich nur das westliche Bündnis Zugang zum verwendeten Sprengstoff habe.

Wirklich sicher ist nur, was Emin Cölasan, der Papst der kemalistischen Kommentatoren, schrieb: Kislalis Täter werden niemals gefunden werden. Denn was in Deutschland der Fahrraddiebstahl ist, scheint in der Türkei der Mord zu sein: Die Aufklärungsrate dieser Straftat ist im vergangenen Jahr auf unter zwei Prozent gesunken. Auf der Liste des Justizministeriums werden 1700 politische Morde geführt, bei denen die Polizei schon seit Jahren die Täter nicht ermittelt . Es gibt keine Untersuchungen, die die Gründe für dieses Versagen beschreiben.

Lang ist vor allem die Liste ermordeter Journalisten in der Türkei. Sie reicht von dem legendären Ugur Mumcu, der von einer Autobombe zerfetzt wurde, über den Intellektuellen Turan Dursun, der auf der Straße mit einem Genickschuss gleichsam hingerichtet wurde, bis zu Bahriye Ücok, die von einer Briefbombe zerrissen wurde. Der kurdische Autor Musa Anter wurde ebenso ein Opfer der Gewalt wie der türkische Gelehrte Muammer Aksoy.

Ganz selten findet man einen Täter, wie etwa im Mordfall des jüdischen Journalisten Abdi Ipekci. Für diese Tat wurde ein gewisser Mehmet Ali Agca verurteilt. Nach seiner bis heute ungeklärten Flucht aus der Haft machte er anderswo eine spektakuläre Karriere: Der junge Türke aus dem Umfeld der rechtsradikalen Grauen Wölfe verübte 1981 das Attentat auf Papst Johannes Paul II.

Agca hatte das Pech, italienischen Behörden in die Hände zu fallen. In der Türkei wäre er vermutlich schon längst wieder auf freiem Fuß. Denn hier ist der politisch motivierte Auftragsmord kaum mehr als ein Kavaliersdelikt - solange man nur für die richtigen Auftraggeber die richtigen Leute liquidiert. Agcas Komplize beim Mord an Ipekci ist das beste Beispiel dafür: Oral Celik leitete später die Geschäfte beim türkischen Fußball-Zweitligisten Malatyaspor. Celal Adan, der einen linken Gewerkschaftsführer erschoss, war lange der engste Vertraute von Ex-Premierministerin Tansu Ciller, und die rechtsextremen Entführer der Schwarzmeerfähre Avrasya entkamen von der Gefängnisinsel Imrali, auf der zur Zeit PKK-Chef Abdullah Öcalan einsitzt. Mit Sicherheit wurde ihnen geholfen. Denn Imrali gilt eigentlich als ausbruchsicher.