Giessener Anzeiger, 22.10.99

Türkischer Politologe bei Bombenanschlag getötet

Täter im islamistischen Umfeld vermutet - Kislali schrieb für linksgerichtete Zeitung

ANKARA (AP). Der türkische Politikwissenschaftler und Kolumnist Ahmet Taner Kislali ist am Donnerstag bei einem Bombenanschlag getötet worden, nachdem er mehrfach Todesdrohungen islamistischer Gruppen erhalten hatte. Wie die halbamtliche Nachrichtenagentur Anatolia meldete, war der Sprengsatz in einer Plastiktüte an der Windschutzscheibe des Autos Kislalis befestigt. Er sei explodiert, als der 60-Jährige die Tüte in die Hand nahm und schüttelte. Die Detonation riss Kislali einen Arm ab. Im Krankenhaus konnte nur noch der Tod des Schwerverletzten festgestellt werden. Die Behörden äußerten sich zunächst nicht zu einer Meldung des türkischen Fernsehsenders NTV, wonach sich eine islamistische Gruppe zu dem Mordanschlag bekannt habe.

Kislali war ein entschiedener Verfechter der weltlichen Verfassung der Türkei. In seiner Kolumne in der linksgerichteten Zeitung "Cumhuriyet" beschuldigte er oft islamische Sekten und Gruppen, die politische Elite zu infiltrieren. Der "Cumhuriyet"-Direktor Hikmet Cetinkaya sagte, Kislali habe wiederholt Todesdrohungen erhalten. "Bewaffnete islamistische Gruppen betrachten uns als Ziele", fügte er hinzu. Professor Emre Kongar, ein weiterer Kolumnist der Zeitung, sagte: "Dieser Anschlag ist ein weiterer Versuch die Säkularisten einzuschüchtern." Kulturminister Istemihan Talay würdigte Kislali als einen Intellektuellen, "der für Erleuchtung und Modernität eintrat".

Kislali hatte in seiner dieswöchigen Kolumne die türkische Regierung wegen einer zu großen Toleranz gegenüber religiösen Fundamentalismus kritisiert. Einem islamistischen Führer warf er Anstiftung zum religiösen Hass wegen der Bemerkung vor, das verheerende Erdbeben vom August sei Gottes Rache für den Säkularismus in der Türkei. Kislali war in den 70er Jahren Kulturminister unter dem damaligen und heutigen Ministerpräsidenten Bülent Ecevit. Dem Parlament gehörte er von 1977 bis zum Staatsstreich der Militärs 1980 an.