fr, 23.10.99

Im Rüstungswahn

Für neue Waffen ist immer Geld da in der Türkei, trotz Dauerkrise und Sonderbelastung nach den Erdbeben

Von Gerd Höhler (Athen)

Umgerechnet etwa 14 Milliarden Mark will sich die türkische Armee die Modernisierung ihrer Panzerstreitmacht kosten lassen - Teil eines gewaltigen Rüstungsprogramms, für das die türkischen Steuerzahler in den nächsten 25 Jahren rund 270 Milliarden Mark aufbringen müssen. Mit der jetzt von Berlin genehmigten Lieferung eines Testexemplars des "Leopard 2 A 5" behält der deutsche Hersteller Krauss-Maffei Wegmann zumindest einen Fuß in der Tür. Das Panzergeschäft wäre, käme es zustande, der mit Abstand größte deutsch-türkische Rüstungsdeal. Die Hersteller beeilten sich vorzurechnen, dass damit mehrere tausend Arbeitsplätze gesichert würden.

Schon seit Mitte der sechziger Jahre liefert die Bundesrepublik fleißig Kriegsgerät an den Bosporus. Um Argumente, warum es die Türkei aufzurüsten gelte, war man noch nie verlegen. Mal mussten die Lage des Landes als Nato-Brückenkopf und die "Rote Gefahr" herhalten, mal der Krieg in Afghanistan, die Spannungen zwischen Iran und Irak, der Golfkrieg oder die Wirren im Kaukasus. Seit 1964 dürften sich die deutsch-türkischen Rüstungstransfers, umfangreiche Gratislieferungen eingerechnet, auf annähernd zehn Milliarden Mark addieren. Profitiert hat die Türkei Anfang der neunziger Jahre vor allem vom sogenannten Cascading, der überwiegend kostenlosen Lieferung von Militärgerät, das im Rahmen des KSE-Vertrags über die Reduzierung konventioneller Waffen in Mitteleuropa überzählig wurde. Dank des Cascading erhielt die Türkei in den Jahren 1992/93 unter anderem 822 US-Kampfpanzer des Typs M 60, 180 gepanzerte Kampffahrzeuge M 113 und 69 Haubitzen des Typs M 110, die aus Deutschland abgezogen wurden.

Auch Bonn schickte ganze Arsenale. Hundert Kampfpanzer des Typs Leopard 1 rasselten nach Anatolien, dazu lieferten die Deutschen Panzerhaubitzen, Artilleriegranaten und Geschütze. Im Rahmen der Golfkriegs-Hilfe erhielt die Türkei von der Bundesrepublik unter anderem 300 Schützenpanzer des russischen Typs BTR 60, 100 000 Panzerfäuste, 5000 Maschinengewehre und 256 000 Kalaschnikows aus ehemaligen NVA-Beständen - Waffen wie geschaffen für den Einsatz im Kurdenkonflikt.

Prompt sorgten 1992 Pressefotos, die BTR 60-Schützenpanzer in der Kurdenregion zeigten, für Irritationen in Bonn. Die Bundesregierung setzte die Rüstungslieferungen für einige Monate aus, bis Ankara hoch und heilig versprach, deutsche Waffen nicht gegen Kurden einzusetzen. Im Frühjahr 1994 wiederholte sich der Vorgang allerdings, wieder stornierte Bonn für kurze Zeit die Waffenlieferungen. Kaum waren sie wieder aufgenommen, wurden türkische BRT 60-Schützenpanzer erneut im Einsatz gegen kurdische Rebellen gesichtet, diesmal sogar auf nordirakischem Territorium. Der damalige freidemokratische Außenminister Klaus Kinkel drohte Ankara "ernste Konsequenzen" an, ließ sich aber schnell mit der türkischen Zusicherung besänftigen, die in Nordirak gesichteten Schützenpanzer stammten aus Russland. Dort hatte die Türkei 1993 etwa ein Dutzend baugleiche Fahrzeuge gekauft.

Trotz der chronischen Finanzkrise, unter der das Land seit Jahren leidet, wollen die türkischen Militärs nun weiter aufrüsten. Einerseits muss die Regierung bei ihren Verbündeten und internationalen Organisationen um Hilfsgelder für die Beseitigung der Erdbebenfolgen betteln; die Kosten für den Wiederaufbau werden allein in diesem Jahr auf mindestens vier Milliarden Mark geschätzt, das Bruttoinlandsprodukt dürfte um zwei Prozent schrumpfen, sogar die Einführung einer Erdbeben-Sondersteuer wird erwogen. Andererseits aber schmieden die Generäle ungeniert Rüstungspläne, als stehe Geld in nahezu unbegrenzten Mengen zur Verfügung. In den nächsten beiden Jahren soll sich der Verteidigungshaushalt jeweils nominal verdoppeln. Berücksichtigt man die von der Regierung veranschlagte Inflationsrate, ergeben sich immer noch jährliche Zuwächse von 40 bis 60 Prozent. Dass die Politiker es wagen könnten, gegen die Rüstungspläne Einspruch zu erheben, ist nicht zu erwarten. Über die Verteidigungspolitik entscheiden die türkischen Generäle traditionell in eigener Regie. Nicht zufällig rangiert der Generalstabschef im offiziellen Protokoll noch vor dem Verteidigungsminister.

Auf der Beschaffungsliste der Militärs stehen neben den tausend neuen Kampfpanzern, die Krauss-Maffei Wegmann gern liefern würde, 640 Kampfflugzeuge, mehr als 250 Hubschrauber und 14 Fregatten. Einen großen Teil der zu beschaffenden Systeme hofft die Türkei in Lizenz im eigenen Land fertigen zu können. Damit wollen die türkischen Militärs eine leistungsfähige Rüstungsindustrie aufbauen. Nach der in den vergangenen Jahren abgewickelten Lizenzmontage von 160 F 16-Jets ist bei der staatlichen türkischen Flugzeugfirma TAI in der Nähe von Ankara bereits die Fertigung einer zweiten Tranche von weiteren 160 Maschinen angelaufen. Die Planungen des Generalstabs sehen außerdem die Beschaffung von bis zu hundert Angriffshubschraubern des Typs Super Cobra, vier Tankerflugzeugen KC-135 R, sechs AWACS-Aufklärern und verschiedener Raketenwaffen vor.

Zwar unterhält die Türkei mit knapp 600 000 Soldaten die zweitgrößte Nato-Streitmacht nach den USA. Aber das gigantische Ausmaß des gegenwärtigen Rüstungsprogramms setzt selbst Militärexperten in Erstaunen. Nicht unmittelbar nachvollziehbar ist, welche Bedrohungs-Szenarien dieser Rüstungsstrategie zu Grunde liegen. Ohnehin ist die Türkei die mit Abstand stärkste Militärmacht der Region. Weder Iran noch Irak oder Syrien stellen für das Land eine ernsthafte Bedrohung dar. Auch Russland, die Ukraine oder Armenien vermag man sich nur schwer in der Rolle von Aggressoren vorzustellen, die es auf den Nato-Staat Türkei abgesehen haben könnten.

Am ehesten lässt sich der türkische Rüstungswahn noch mit dem traditionellen Feindbild Griechenland erklären. Das zeigt sich insbesondere zur See. Für die seit Anfang der neunziger Jahre von beiden Ländern forcierte Modernisierung ihrer Kriegsflotten gibt es keinen anderen nachvollziehbaren Grund als die bilateralen Bedrohungs-Szenarien. In Athen verfolgt man die jüngsten türkischen Rüstungspläne mit besonderem Argwohn. Um mit dem Nachbarn wenigstens annähernd mitzuhalten, geben die Griechen prozentual zu ihrem Nationaleinkommen sogar noch mehr für die Verteidigung aus als die Türken - ein Rüstungswettlauf, der beiden Völkern enorme Lasten aufbürdet und wegen der Anhäufung immer größerer Militärpotenziale beträchtliche Konfliktgefahren birgt. Doch das hat die Lieferanten noch nie beunruhigt.