taz, 21.10.1999 Seite 10

Türkische Islamisten machen mobil

Neue Kampagne: Das Erdbeben von Izmit als Strafe Gottes gegen die Armee. Verhaftung der streitbaren Islamistin Merve Kavakci gescheitert

Aus Instanbul Jürgen Gottschlich

"Ich komme wieder", hatte der leitende Staatsanwalt des Staatssicherheitsgerichts Ankara gedroht, "und dann habe ich einen Haftbefehl des Gerichts dabei." Wutschnaubend war Nuh Mete Yüksel - "unser Kenneth Starr", wie ihn die türkische Presse bereits nennt - in der Nacht von Montag auf Dienstag aus dem Hausflur der prominentesten Islamistin des Landes, Merve Kavakci, wieder abgezogen. Eine ganze Truppe von Parlamentsabgeordneten der islamischen Fazilet hatten ihre Kollegin geschützt. Das Spektakel in der Nacht hat nun tatsächlich Konsequenzen, allerdings zunächst für den Staatsanwalt. Angefangen von Staatspräsident Demirel, über Ministerpräsident Ecevit bis zum zuständigen Innenminister gingen anderntags alle auf Distanz zu Mete Yüksel. Man dürfe eine Dame doch nicht mitten in der Nacht belästigen. Prompt wurde gegen denStaatsanwalt ein Disziplinarverfahren eingeleitet.

Merve Kavakci hatte es bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments vergangenen April gewagt, als erste gewählte Abgeordnete als Zeichen ihrer Religiösität mit einem Kopftuch zu erscheinen. Es kam zum Eklat. Die Sitzung wurde nach tumultartigen Szenen unterbrochen, Frau Kavakci konnte nicht vereidigt werden und erschien nie wieder im Hohen Haus. Weil Merve Kavakci neben der türkischen auch die US-amerikanische Staatsbürgerschaft besitzt, dies aber beim Wahlleiter nicht angegeben hatte, wurde ihr die türkische Staatsbürgerschaft aberkannt. Das Berufungsverfahren in dieser Sache steht noch aus. Nach Ansicht ihrer Partei, der islamischen Fazilet, genießt Merve Kavakci außerdem nach wie vor Immunität, da das Parlament diese nie aufgehoben habe.

Der Vorstoß des Staatsanwalts erfolgte aber in anderer Sache. Mete Yüksel ermittelt gegen Kavakci wegen Verstoßes gegen den Laizismus und Unterstützung einer terroristischen Organisation. Sie soll, als sie in den USA lebte, mit der radikalislamischen Hamas zusammengearbeitet haben.

Der neuerliche Eklat um Merve Kavakci fällt in eine Zeit zunehmender Spannungen zwischen islamischen Fundamentalisten und laizistischem Staat. Verschiedene islamische Gruppen, unter ihnen die einflußreiche Organisation der Nurcular, ein Orden, der sich auf Scheich Said Nursi, der nach einem Aufstand 1936 gehenkt wurde, beruft, machen seit dem Erdbeben am 17. August in Izmit mit der Parole mobil, dieses Beben sei eine Strafe Gottes. Mehmet Kutlular, der Vorsitzende der Nurcular, behauptete während einer Veranstaltung zum Todestag des Scheichs gar, das Zentrum des Bebens hätte deshalb in Gölcük gelegen, weil dort die Marineakademie steht, in der der Quasi-Staatsstreich gegen den damaligen islamischen Ministerpräsidenten Erbakan im Februar 1997 geplant worden war. Kutlular wurde verhaftet und wird jetzt wegen Volksverhetzung angeklagt. Doch er ist nicht der einzige, der einen solchen Zusammenhang herstellt. Als es zu Semesterbeginn zu den alljährlich stattfindenen Auseinandersetzungen um Kopftuch tragende Studentinnen kam, tauchten immer wieder Schilder mit dem Satz auf: "War der 17. August noch nicht genug?"

Die Staatsspitze hat sich im Falle Merve Kavakci erst einmal dafür entschieden, die Staatsanwaltschaft auszubremsen, um Zeit zu gewinnen. Im Vorfeld des OSZE-Gipfels am 17./18.November in Istanbul käme ein politischer Skandal ungelegen. Darüber hinaus aber herrscht nach wie vor große Unsicherheit, wie es weitergehen soll. Während das Militär und die politische Staatsanwaltschaft auf eine harte Linie drängen, ist das Parlament völlig zerstritten. Ein Antrag der Regierungspartei von Ministerpräsident Ecevit, das Kopftuch im Parlament explizit zu verbieten, fand keine Mehrheit.