Frankfurter Rundschau, 18.10.1999

Deutsch werden dauert ein Jahr plus unendlich

Auf dem Verwaltungsweg möchten die Unionsländer Hürden gegen das neue Staatsbürgerschaftsrecht errichten

Von Vera Gaserow (Berlin)

Der 21. Mai dieses Jahres war einer der Tage, die manche ein "historisches Datum" nennen. Der Bundesrat verabschiedete die Drucksache 188/99 und Deutschland nahm Abschied von einem vergreisten, 86 Jahre alten Gesetz. Ein Akt, vollzogen auf 29 Seiten mit Paragraphen, Ergänzungsartikeln, Veränderungsklauseln. Für Nichtjuristen kaum entwirrbar. Immerhin der Schlusssatz war verständlich: "Im Übrigen tritt dieses Gesetz am 1. Januar 2000 in Kraft."

1. Januar 2000. Noch gut zwei Monate, bis die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts rechtsgültig ist. Für die Öffentlichkeit kein Aufregerthema mehr, aber für Beamte wie Wolfgang Suckow läuft der Countdown. "Für uns ist es ein wichtiges stadtpolitisches Ziel, auf das neue Gesetz gut vorbereitet zu sein", sagt der Leiter der Münchner Einbürgerungsbehörde. Ehrensache. Einige hundert Kilometer weiter nördlich, in Köln, versichert Kollege Peter Schriefer: "Wir müssen gewappnet sein." "Gewappnet" sein, sich "vorbereiten" - das wollen viele Kommunen, doch niemand weiß genau, worauf. In der Praxis wird das neue Staatsbürgerrecht eine Gleichung mit vielen Unbekannten.

Einen Ansturm von Einbürgerungswilligen mit einem gehörigen personellen und finanziellen Mehraufwand sehen viele Kommunen auf sich zurollen. In Berlin hingegen wagt Kenan Kolat, der Geschäftsführer des Türkischen Bunds, eine andere Prognose. In jüngster Zeit, so beobachtet Kolat, zögen viele seiner türkischen Landsleute ihren Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft sogar zurück. Der Grund: In der Vergangenheit konnten sie sich nach Erhalt des deutschen Passes vom Heimatstaat Türkei wieder rückeinbürgern lassen. Das neue Gesetz hingegen versperrt diesen Schleichpfad zur Doppelstaatsbürgerschaft. "Zumindest bei den Erwachsenen werden die Einbürgerungen zurückgehen", sagt Kolat deshalb voraus.

Prognosen auf dünnem Eis. Statistisch lässt sich zwar genau errechnen, wie viele der über sieben Millionen in Deutschland lebenden Einwanderer ab Januar einen Anspruch auf erleichterte Einbürgerung haben. Doch wie viele werden ihn auch nutzen? Noch ein zweiter Umstand sorgt für Verunsicherung und Planungs-Wirrwarr in den Amtsstuben: Während der Stichtag 1. Januar näher rückt, fehlen bisher Richtlinien, wie das neue Recht praktisch umgesetzt werden soll.

Eigentlich sollten die dazu nötigen Verwaltungsvorschriften bereits vorliegen. Doch schon ein erster Arbeitsentwurf aus dem Schily-Ministerium droht nun am Widerstand der unionsregierten Länder zu scheitern. Als Kontrapunkt zum Bund hat Bayerns Innenminister Günter Beckstein (CSU) sogar einen eigenen Entwurf präsentiert, und mit schrillen Kampfansagen ("Die Verwaltungsvorschriften sind ein Doppelpass durch die Hintertür!") rollt Bayern alte ideologische Schlachten wieder auf. Aber auch Berlin droht, die Verwaltungsvorschriften im Bundesrat zu blockieren. Am Dienstag will eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe nochmals eine Einigung suchen. Gelingt das nicht, dann wird es ab Januar zwar ein neues Staatsbürgerschaftsrecht geben - aber auch zahlreiche Spielarten. An den Eckpfeilern des Gesetzes, den kürzeren Einbürgerungsfristen und der automatischen Einbürgerung hier geborener Kinder, werden zwar auch hart gesottene Reformgegner nicht rütteln können. Aber ohne einheitliche Verwaltungsvorschriften lassen sich politische Nachhutgefechte liefern, die die rechtlichen Erleichterungen so schwer wie möglich machen.

Vor allem an drei Punkten wollen die Unionsländer Hürden aufbauen. Während das Bundesinnenministerium den Katalog der Fälle weiter fassen will, in denen Deutschland Mehrstaatlichkeit hinnimmt, weil eine Entlassung aus der Heimatstaatsbürgerschaft nicht zumutbar ist, will Bayern eisern am Status quo festhalten. Streit herrscht auch darüber, wie die Deutschen in spe nachweisen sollen, dass sie Regeln der freiheitlich demokratischen Grundordnung akzeptieren. Das Bundesinnenministerium hält eine schlichte Erklärung für ausreichend - vorausgesetzt, es liegen keine "tatsächlichen Anhaltspunkte" für verfassungsfeindliche Bestrebungen des Anwärters vor. Bayern hingegen fordert eine Prüfung in Staatsbürgerschaftskunde und stellt alle Einbürgerungswilligen unter Generalverdacht: Wer Deutscher werden will, ist ein Fall für den Verfassungsschutz und muss dort eine Regelanfrage durchlaufen. Das hingegen, so protestiert nicht nur das rot-grüne Nordrhein-Westfalen, "kommt mit uns nicht in Frage".

Differenzen gibt es auch darüber, wie die geforderten Deutschkenntnisse geprüft werden solllen. Die Anwärter müssen in der Lage sein, sich mit den Behörden ohne Dolmetscher zu verständigen, lautet der Tenor aus dem Haus Schily. Bayern und andere Unionsländer bestehen auf einem schriftlichen Diktat. Theoretisch ein Streit um eine Marginalie, in der Praxis gerade für ältere Migranten eine hohe Hürde. Aber selbst wenn Bund und Länder in diesen Streitfragen zu einer einheitlichen Regelung kommen, wird das Staatsbürgerschaftsrecht im Alltag noch genug Abweichungen aufweisen. Je nach politischem Willen und Finanzkraft werden die Städte und Gemeinden den Zugang zum erleichterten Einbürgerungsverfahren unterschiedlich dosieren.

Beispiel Köln, ein Vorbild. Schon frühzeitig hat die Stadtverwaltung eine Arbeitsgruppe gegründet, um auf das neue Recht vorbereitet zu sein. Mit 60 000 Neuanträgen rechnet man hier. 75 zusätzliche Stellen hat der Stadtrat der Einbürgerungsbehörde bewilligt, weil das beste Gesetz nichts nützt, wenn es wegen Überlastung nicht umgesetzt werden kann. Andere Städte hingegen lassen den zu erwartenden Mehraufwand einfach auf sich zurollen. Kein Geld in der Gemeindekasse, kein Personal, in Kauf genommener Antragsstau - Wartezeit auf einen deutschen Pass: ein Jahr plus unendlich. Auch so lassen sich herabgesetzte Einbürgerungsfristen, vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt, wieder hoch schrauben.

Durch Aufklärungsarbeit können Städte und Gemeinden den Status quo erhalten oder aber verändern. Beispiel München: Die Stadt, die ab Januar mit 100 000 neuen Anträgen rechnet, gehört zu denen, die offensiv für die erleichterte Einbürgerung werben wollen. Der OB wird informieren, die Stadt lässt Broschüren auflegen. Vor allem auf die neue Möglichkeit, in Deutschland geborene Kinder auch rückwirkend einbürgern zu lassen, will man ausländische Eltern hinweisen.

Diese Möglichkeit gilt nur für eine Übergangsfrist von einem Jahr. Wolfgang Suckow, Chef der Münchner Einbürgerungsbehörde, will deshalb darüber "intensiv informieren". Genau das würde ihm das bayerische Innenministerium jedoch am liebsten untersagen. Nach den bayerischen Plänen soll dieser Einbürgerungsanspruch für Kinder möglichst wenig publik werden. Das Recht soll nur dann aus den Tiefen der Behördenschubladen gezogen werden, wenn es sich nicht mehr vermeiden lässt, "wenn dies vom Antragsteller ausdrücklich gewünscht wird".