Frankfurter Rundschau, 18.10.1999

EU peilt einheitliches Recht an

Gipfel bereitet neue Integrationsschritte vor / Asylpolitik soll angeglichen werden

Von Martin Winter

Nach der Schaffung des Binnenmarkts und der Einführung des Euro wendet sich die Europäische Union nun der Vereinheitlichung der Innen- und Rechtspolitik zu. Bis 2004 sollen konkrete Schritte zu einer Angleichung der Rechtssysteme, einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik und einer europaweiten Strafverfolgung unternommen werden.

TAMPERE, 17. Oktober. Auf ihrem Sondergipfel im finnischen Tampere haben sich die Staats- und Regierungschefs der EU zumindest im Grundsatz auf Elemente einer gemeinsamen Justizpolitik geeinigt. So soll etwa durch eine gegenseitige Anerkennung von Urteilen damit Schluss gemacht werden, dass verschiedene nationale Gerichte gegenteilige Sprüche fällen. Die Möglichkeiten des Bürgers, seine Rechtsansprüche unionsweit durchzusetzen, soll durch einen "europäischen Vollstreckungstitel" verbessert werden. Für grenzüberschreitende Rechtsstreitigkeiten will die EU "Mindeststandards zur Gewährleistung einer angemessenen Höhe der Prozesskostenbeihilfe" einführen. Widersprüchlichen Sorgerechtsurteilen bei der Scheidung gemischtnationaler Ehen soll der Boden entzogen werden. Die EU-Kommission wurde beauftragt, bis zum Ende des kommenden Jahres ein "Maßnahmenprogramm" zur Harmonisierung der Rechtssysteme vorzulegen.

Eine Harmonisierung wird auch beim Strafrecht angestrebt. Eine immer engere Zusammenarbeit wurde ebenfalls für die Kriminalitätsbekämpfung verabredet. Auf deutschen Vorschlag hin sollen die europäischen Staatsanwaltschaften über eine Institution namens "Eurojust" zur besseren Verfolgung grenzübergreifender Straftaten miteinander vernetzt werden. Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sprach von einer "Keimzelle für eine europäische Staatsanwaltschaft". Eurojust wird aus Staatsanwälten, Richtern und Polizisten aus den EU-Ländern bestehen.

Ebenfalls auf deutschen Vorschlag wird ein europäisches "Polizeikolleg" geschaffen, auf dem leitende Beamte für unionsweite Zusammenarbeit ausgebildet werden sollen. Die Bedeutung des europäischen Polizeiamtes Europol soll wachsen - einmal durch Einbeziehung in "gemeinsame Ermittlungsteams" zur Bekämpfung von Terrorismus sowie Drogen- und Menschenhandel; zum anderen durch Zuarbeit für Eurojust und schließlich durch Kooperation mit der vom Gipfel gewünschten "operativen Task Force der europäischen Polizeichefs".

Beim großen Themenkomplex Zuwanderung und Asyl verständigten sich die Regierungen auf ein "gemeinsames europäisches Asylsystem", dessen Details aber noch der Entwicklung bedürfen. London und Paris hatten sich gegen die ursprünglich vorgesehene deutlichere Harmonisierungsvokabel "einheitlich" gestemmt. Ziel ist es, dass Asylentscheidungen in einem Land auch in allen anderen gelten. Innerhalb eines Jahres soll die EU-Kommission Vorschläge für eine Annäherung erarbeiten. Nicht einigen konnten sich die Regierungschefs auf einen Sonderfonds von 250 Millionen Euro (fast 500 Millionen Mark) zur Flüchtlingsbetreuung. Zum einen war unklar, aus welchen Quellen er gespeist werden soll. Zum anderen fehlte vor allem den Deutschen, die den Großteil der Flüchtlinge aufnehmen, eine klare Bestimmung zur Verwendung des Geldes.

Die EU will durch Bekämpfung von Menschenschmuggel und "ökonomischer Ausbeutung" verstärkt gegen illegalen Menschenschmuggel vorgehen. Gesetzliche Regelungen dafür sollen bis Ende 2000 vorliegen. Die wirtschaftlichen Gründe für Einwanderung sollen durch gezieltere Hilfen für die Ursprungsländer bekämpft werden. Für legal und "langfristig" in der EU lebende Angehörige von "Drittländern" wurde die Absicht der "Integration" bekräftigt. Sie sollen die Chance bekommen, die Nationalität des EU-Staates zu erhalten, in dem sie leben.

Bundeskanzler Schröder betonte: "Wir brauchen in Europa eine einheitliche Asylpolitik - nicht im Sinne einer Festung Europa, aber im Sinne einer Verfahrensannäherung." Der Kanzler versicherte, dies werde nicht zu einer Verwässerung des deutschen Asylrechts führen. In ihren Schlussfolgerungen wiesen die Staats- und Regierungschefs ausdrücklich darauf hin, dass sie sich mit einer gemeinsamen Asylpolitik nicht abschotten, sondern "uneingeschränkt zu ihren Verpflichtungen aus der Genfer Flüchtlingskonvention" stehen wollten.