Neue Züricher Zeitung 18.10.

Umrisse eines gemeinsamen Rechtsraums der EU

Projektskizze am Europäischen Rat in Tampere

Der Europäische Rat hat zwar nichts Spektakuläres entschieden. Falls die Mitgliedstaaten aber alles umsetzen, könnte das Projekt eines europäischen Rechtsraums mit der gegenseitigen Anerkennung von Gerichtsentscheiden, der erleichterten Zulassung von Beweismitteln sowie der radikalen Vereinfachung von Auslieferungen weitgehende Neuerungen bringen.

lts. Tampere, 16. Oktober

Am Ende des Europäischen Rates in Tampere haben die Gipfelteilnehmer ihre Arbeit sehr positiv beurteilt. Der deutsche Bundeskanzler Schröder stellte fest, nach dem Binnenmarkt, dem Euro und der gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik habe die Union ein neues grosses Integrationsprojekt lanciert. Zwar sei nichts «Spektakuläres oder gar Waghalsiges» entschieden worden, ergänzte der französische Präsident Chirac, aber auf der neu eingerichteten Baustelle einer EU- weiten kompatiblen Justiz- und Innenpolitik entstehe das «Europa der Menschen». Wesentlich nüchterner äusserte sich Luxemburgs Regierungschef Juncker. Der Gipfel sei sicher keine überflüssige Veranstaltung gewesen. Aber er vermisste eine griffigere Sprache, und Juncker wunderte sich auch, wie oberflächlich über diffizile Probleme geredet worden sei. «Da musste man sich gelegentlich anschnallen.»

Keine Abschottung gegen Asylsuchende

Die Finnen als Gastgeber gründeten ihre positive Bilanz auf der Überzeugung, in Tampere seien durch politische Signale und konkrete Aufträge Meilensteine auf dem Weg zu einer bis 2004 konvergierenden Asyl- und Migrationspolitik, einem gemeinsamen Rechtsraum und einer europäischen Verbrechensbekämpfung gesetzt worden. Für die Umsetzung des Programms von Tampere müssen nach Aussage von Kommissionspräsident Prodi vor allem die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaft nur subsidiär gesetzgeberisch tätig werden. Ob und wie sie es tun, soll mit einer geeigneten Erfolgskontrolle auf einer «Anzeigetafel» periodisch überprüft werden.

Entgegen den Befürchtungen von Flüchtlingsorganisationen schottete sich die EU in Tampere nicht gegen Asylbewerber ab. Die ausdrückliche Verpflichtung zur Einhaltung der einschlägigen internationalen Konventionen und das Bekenntnis zu einem «gerechten und wirksamen» Asylverfahren wurden am gleichzeitig in Tampere durchgeführten «Gegengipfel» der Nichtregierungsorganisationen als «ein Schritt weg von der Festung Europa» begrüsst. Die Staats- und Regierungschefs der EU bekannten sich auch zur gegenseitigen Solidarität bei der befristeten Aufnahme einer grossen Zahl von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen. Wie allerdings die unterschiedlichen Belastungen zwischen den Mitgliedstaaten ausgeglichen werden sollen, bleibt auch nach Tampere offen.

Um dem Asyltourismus und dem Missbrauch des Asylrechtes einen Riegel zu schieben, will die EU schrittweise ein gemeinsames, aber auf Drängen Frankreichs kein einheitliches Asylsystem aufbauen. Gedacht wird zunächst an die rasche Umsetzung des Abkommens zur Bestimmung des Erstasyllandes und an gemeinsame Minimalbedingungen für die Aufnahme, längerfristig auch an ein konvergentes Asylverfahren und an einen einheitlichen Status für jene, denen Asyl gewährt wird. Legal niedergelassene Angehörige aus Drittländern sollen überall in der EU nach vergleichbaren Kriterien rasch und vollständig integriert werden. Gleichzeitig will man innert Jahresfrist mit neuem Gemeinschaftsrecht gegen Schlepperorganisationen vorgehen, mit verschärften Grenzkontrollen die illegale Einwanderung abbremsen und als Union in Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern vermehrt lenkend auf die Migrationsströme einwirken.

Um dem EU-Bürger den Zugang zum Recht zu erleichtern, soll die Kommission Vorschläge zur Beseitigung bürokratischer Hürden sowie zur Vereinfachung und Straffung der Verfahrensabläufe ausarbeiten. In einer ersten Phase will man vor allem grenzüberschreitende Gerichtsverfahren bei verbraucher- und handelsrechtlichen Klagen mit geringem Streitwert sowie bei Unterhaltsansprüchen und Besuchsrechten erfassen. Wie weit später das Zivilrecht materiell angeglichen werden muss, um zu einer grösseren verfahrensmässigen Annäherung zu kommen, ist bis 2001 in einem Bericht erst noch zu klären. Der Aufbau einer uniformen europäischen Rechtsordnung ist in der EU nicht konsensfähig, aber nach Meinung aller sollen die nationalen Rechtssysteme in der Anwendung untereinander kompatibel werden. Die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen, wozu bis Ende 2000 ein Umsetzungsprogramm verlangt wurde, gilt als Eckstein der Zusammenarbeit im Rechtsbereich. Vorgesehen ist auch, dass von den Behörden eines Mitgliedstaates rechtmässig erhobene Beweise vor den Gerichten anderer Mitgliedstaaten zugelassen werden. Abschaffen will der Europäische Rat die förmlichen Auslieferungsverfahren für bereits rechtskräftig verurteilte Personen. Und als Fernziel sehen insbesondere die Briten bei Auslieferungsanträgen innerhalb der EU den Ersatz der Rechtshilfe mit Instanzenzug durch einen verzugslos im ganzen Gemeinschaftsraum wirksamen europäischen Haftbefehl.

Eine Europäische Polizeiakademie

Zur intensivierten Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung wollen die Staats- und Regierungschefs unverzüglich gemeinsame Ermittlungsteams im Einsatz gegen den Drogen- und Menschenhandel sowie den Terrorismus sehen. Im Kampf gegen das organisierte Verbrechen plant die EU, ihr Arsenal durch verschiedene Massnahmen auszubauen. Dazu gehören eine aktivere Rolle von Europol beim Einleiten, Durchführen und Koordinieren von Ermittlungen, die Bildung einer Task force der europäischen Polizeichefs, die Vernetzung der nationalen Staatsanwaltschaften sowie die gemeinsame Schulung von Führungskräften der Strafverfolgungsbehörden in einer Europäischen Polizeiakademie. In besonders relevanten Bereichen, wie Finanzkriminalität, Drogen- und Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern oder Umweltkriminalität, will die EU rasch die Straftatbestände einheitlich definieren und sich auf gleiche Sanktionen einigen. Weil die Geldwäsche das Herzstück der organisierten Kriminalität sei, sprach sich der Rat für eine weitere Verschärfung des Strafrechtes, für eine einheitliche Bezeichnung der vorbereitenden Handlungen zur Geldwäsche, für Konvergenz beim Einziehen von Vermögenswerten, für mehr Transparenz bei Finanzgeschäften sowie für die Aufhebung des Bankgeheimnisses bei Geldwäschereiverdacht aus. Ausdrücklich unterstützte der Rat auch die Zusammenarbeit mit angrenzenden Drittstaaten bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens.