Stuttgarter Zeitung, 15.10.99

Die Türken wollen den süßen EU-Apfel pflücken

Mit Euphorie hat die Presse auf die Empfehlung der Kommission reagiert - Hoffnung auf eine weitere Demokratisierung des Landes

¸¸Hallo Europa'', hat gestern das türkische Massenblatt ¸¸Sabah'' getitelt. Ähnlich haben auch die anderen Medien am Bosporus auf die Empfehlung der EU-Kommission reagiert, der Türkei den Status eines Beitrittskandidaten einzuräumen.

Von Jan Keetman, Istanbul

Mit dem Gruß ¸¸Merhaba Avrupa'' - ¸¸Hallo Europa'' - überschrieb das Massenblatt ¸¸Sabah'' (¸¸Der Morgen'') gestern seine Titelseite. Die Schlagzeile war charakteristisch für die positive Stimmung, mit der die türkischen Medien auf die Empfehlung der EU-Kommission reagierten, auch der Türkei den Kandidatenstatus einzuräumen, aber auf unbestimmte Zeit nicht mit Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Wie ein großes Geschenk feierte die Presse die Botschaft aus Brüssel.

¸¸Sabah'' listete die von einem Beitritt des Landes zur Europäischen Union zu erwartenden Vorteile gleich neben seinem Gruß auf: Die Inflation werde auf ein bis zwei Prozent sinken, das Prokopfeinkommen werde steigen, die Einhaltung der Menschenrechte werde garantiert, die Infrastruktur werde verbessert und - zu guter Letzt - die Bürger könnten ohne ein Visum europäische Länder bereisen.

Ebenfalls positiv, aber sehr viel zurückhaltender als die Presse reagierte der türkische Außenminister Ismail Cem. In einem Fernsehinterview betonte er, dass es sich bei der jetzigen Entscheidung, die ohnehin erst noch auf dem EU-Gipfel in Helsinki am 10. und 11. Dezember abgesegnet werden muss, ¸¸um nicht mehr als eine Etappe'' auf dem Weg in die Union handele. Der Fortschrittsbericht der Kommission, der die Lagen in jedem Kandidatenland genau analysiert, enthalte Punkte, ¸¸mit denen wir nicht einverstanden sind''. Wenn gefordert werde, das Land weiter zu demokratisieren, müsse auch die ¸¸terroristische Bedrohung'' der Türkei berücksichtigt und stärker gewichtet werden. Damit spielte der Minister auf die Frage der Minderheitenrechte und ihre Anwendung auch auf die von Ankara nicht als Minderheit anerkannten Kurden an. Diesem Problem verdanken sich auch zahlreiche Gesetze und Institutionen, die von der Kommission als undemokratisch abgelehnt werden.

Kritisiert werden zum Beispiel die Staatssicherheitsgerichte und der Nationale Sicherheitsrat, ein Gremium aus Vertretern der Streitkräfte und der Exekutive, das in der Praxis einen erheblichen Teil der türkischen Politik bestimmt. Doch die diesbezüglichen Beschwerden der Kommission stoßen vermutlich bei Ministerpräsident Bülent Ecevit und seinem Koalitionspartner, der Partei der Nationalistischen Bewegung, auf taube Ohren. Sie glauben, ein Nachgeben in diesem Bereich könne den türkischen Einheitsstaat gefährden.

Den Widerspruch zwischen der proeuropäischen Stimmung und dem Unwillen der Regierenden, einige grundlegende Reformen einzuleiten, griff die Zeitung ¸¸Radikal'' auf. Ihr Chefkolumnist Ismet Berkan schrieb, für die türkischen Politiker gebe es offensichtlich keine größere Strafe, als das Land zum EU-Kandidaten zu erklären. Denn eine Aufnahme sei an die Verwirklichung der in den ¸¸Kopenhagener Kriterien'' genannten Bedingungen geknüpft. Und diese wollten die meisten Politiker keinesfalls erfüllen. Nun aber wachse dank der EU-Kommission der Druck auf die Regierung. Das begrüßte die Zeitung, die sich vor allem an ein junges und gebildetes Publikum wendet. Sie schrieb, die Empfehlung der Kommission sei ¸¸der Apfel'', den die Türkei nun ergreifen sollte.

Doch auch die islamistische Presse kommentierte die Brüsseler Empfehlung wohlwollend. Die fundamentalistische Zeitung ¸¸Yeni Safak'' (¸¸Neue Morgendämmerung'') schrieb in großen Lettern auf ihrer Titelseite: ¸¸Zuerst die Demokratie.'' Die Fundamentalisten hoffen tatsächlich auf die Schützenhilfe der EU, seit die islamistische Wohlfahrtspartei verboten wurde und auch im Bildungssektor religiöser Einflussnahme zunehmend der Riegel vorgeschoben wird. Die geforderte Demokratisierung, so die Hintergedanken der religiösen Eiferer, könnte ihnen wieder mehr Entfaltungsmöglichkeiten bringen. Allerdings konnte sich das Blatt einen Seitenhieb nicht verkneifen: Zwergstaaten wie Malta und das griechische Zypern würden offensichtlich der Türkei vorgezogen, die schon seit fast 40 Jahren auf die Aufnahme in die EU warte.