taz, 15.10.1999

EU-Kommissar Verheugen und die Beitrittswünsche der Türkei

Strategische Sorgen

Ja, was denn nun? Am 6. Oktober sprechen sich in Straßburg die EU-Parlamentarier mit parteiübergreifender Mehrheit dagegen aus, der Türkei in absehbarer Zukunft den Status eines Beitrittskandidaten zu gewähren. Genau eine Woche später empfiehlt Günter Verheugens Erweiterungsbericht das Gegenteil.

Betrachtet man sich die Begründungen genauer, ist festzustellen: Das Parlament ist ehrlicher. Redner fast aller Parteien charakterisierten die Türkei vor der Abstimmung als ein politisch unreifes Land mit wirtschaftlichen Problemen, an denen sich Europa überheben würde. Warum die Türkei uns näher sei als Russland oder die Ukraine wollten manche Debattenredner wissen. Mit welchen Argumenten wolle man Weißrussland oder Moldawien vor die Tür weisen, wenn gleichzeitig der Türkei gestattet wird, auf der europäischen Schwelle zu übernachten?

Die Antwort ist einfach: Beim Liebeswerben um den kranken Mann am Bosporus geht es den Staatschefs nicht um die Frage, ob europäische Identität und europäische Wirtschaft eine solche Erweiterung vertragen könnten. Sie quälen strategische Sorgen. Seit eh und je wird die Türkei als Bollwerk gegen den Orient gebraucht - der Balkankrieg hat das einmal mehr ins europäische Bewusstsein gerufen.

Ohne Aussicht auf Annäherung an Europa, das haben die Machthaber in Ankara sehr deutlich gemacht, steht auch die türkische Nato-Mitgliedschaft mittelfristig in Frage. Dabei geht es keineswegs nur darum, vom Euro-Kuchen ein Stück abzukriegen. Die türkische Elite fühlt seit hundert Jahren europäisch. Enttäuschte Liebe kann leicht in Hass umschlagen. Deshalb muss ein Kandidatenstatus her, der schwerer wiegt als vage Versprechen. Bei genauerer Lektüre allerdings werden türkische Leser Verheugens Papier als halbherzig erkennen. Verhandlungen, so heißt es darin, könnten natürlich erst aufgenommen werden, wenn sich bei Bürgerrechten und Wirtschaftsreform etwas bewegt habe.

Der Türkei wird es im nächsten Jahr gehen wie der 13. Fee im Märchen: Sie wird nicht eingeladen, wenn alle anderen mit der EU zu verhandeln beginnen. Worin der Vorteil des neuen Status für sie bestehen soll, steht im Papier: Ein Dialog werde möglich, über Menschenrechte vor allem. Außenminister Cem wird entzückt sein. Er hat schon bei seinem Besuch Mitte September in Brüssel deutlich gesagt, dass er nicht bereit sei, Einmischungen in innere Angelegenheiten hinzunehmen - auch nicht im Austausch gegen den Kandidatenstatus.

Daniela Weingärtner