Neue Zürcher Zeitung, 15.10.1999

EU-Gipfelschau auf europäischen Rechtsraum

Justiz und Inneres als Integrationsmotoren?

An einem Sondergipfel in Tampere wollen die Staats- und Regierungschefs der EU den proklamierten europäischen «Raum für Freiheit, Sicherheit und Recht» mit Inhalten füllen, die der EU-Bürger versteht und die ihm auch etwas bringen. Noch steht aber nicht fest, welche Pflöcke in Tampere wirklich eingeschlagen werden.

lts. Brüssel, 14. Oktober

An einem ausserordentlichen EU-Gipfel Ende dieser Woche im finnischen Tampere werden sich die Staats- und Regierungschefs vorwiegend dem Aufbau eines europäischen «Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts» widmen. Das Thema beschäftigt sie nicht zum erstenmal. Die verstärkte Zusammenarbeit in der Justiz- und der Innenpolitik steht seit Maastricht und - etwas verbindlicher - seit Amsterdam auf der Agenda. Den Zielsetzungen und Aktionsplänen folgte bis jetzt allerdings wenig Konkretes. Es fehlen, wie der zuständige EU-Kommissar Vitorino vor den Medien bemerkte, die nötigen Instrumente, um die Aufgaben zu realisieren. Asyl, Immigration, aber auch Rechtsprechung berühren eben Bereiche staatlichen Handelns, in denen auch in den EU-Mitgliedländern die Traditionen und Reflexe nationaler Souveränität nach wie vor stark ausgeprägt sind.

Anspruch und Wirklichkeit

Eine Annäherung der Innen- und der Rechtspolitik ist aber, wie die finnische Aussenministerin Halonen als amtierende Ratspräsidentin feststellte, selbst ohne weitergehende Vergemeinschaftungsambitionen der logische Schritt hin zur Vollendung des bereits bestehenden Binnenmarktes. Wenn die EU die Personenfreizügigkeit verspricht, muss sie auch sicherstellen, dass der Mobilitätswille des Bürgers nicht durch bürokratische Hindernisse frustriert wird. Wie sehr Anspruch und Wirklichkeit in der EU aber auseinanderklaffen, erfährt, wer sich im Sitzstaat der EU, in Belgien, niederlassen will. Er erlebt eine in ihrer Schwerfälligkeit geradezu frivol bürgerferne Bürokratie, für die der Binnenmarkt offensichtlich eine Veranstaltung auf einem anderen Planeten bleibt. Ein funktionierender Binnenmarkt braucht auch einen gemeinsamen Rechtsraum, in dem der mobile EU-Bürger seine transnationalen Ansprüche, insbesondere im Familien- und Vermögensrecht, leichter durchsetzen kann. Wenn die EU ihren Bürgern eine Union ohne Binnengrenzen beschere und Arbeitsbeschaffungsprogrammen hohe Priorität einräume, müsse sie ihnen auch, wird gefordert, ein von grenzüberschreitender Kriminalität und illegaler Präsenz auf dem Arbeitsmarkt wenig beeinträchtigtes Lebensumfeld gewährleisten. Es hapert aber schon bei der gegenseitigen Rechtshilfe, und von einer effizienten innergemeinschaftlichen polizeilichen und justitiellen Zusammenarbeit ist die Gemeinschaft weit entfernt.

Drei Themenkörbe

In der Vernehmlassung zur Vorbereitung von Tampere sind in den EU-Hauptstädten viele Anregungen gemacht worden, was die Union tun sollte. Um der sich abzeichnenden Gefahr einer Verzettelung zu begegnen, schlug die finnische Präsidentschaft die Einrichtung von drei Themenkörben vor: Immigration und Asyl, Verbrechensbekämpfung und europäischer Rechtsraum. In einem Brief an den finnischen Ministerpräsidenten Lipponen mahnte der Kommissionspräsident Prodi, der Gipfel werde Themen aufgreifen, die den Bürger sehr direkt beschäftigten, weshalb auch die Botschaft aus Tampere in eine Sprache gefasst werden müsse, von der sich der Bürger direkt angesprochen fühle. Prodi unterstützte die Fokussierung auf drei Brennpunkte. Als dringend bezeichnete er den für den Bürger erleichterten Zugang zum Recht sowie gemeinsame Aktionen gegen die Wirtschaftskriminalität und Geldwäscherei, nicht zuletzt auch zum Schutz des Euro.

Prodi bekannte sich ferner als Anhänger eines in den Grundzügen einheitlichen europäischen Asylverfahrens, und er sprach von der Notwendigkeit einer Migrationspolitik mit maximaler Integration der legal Niedergelassenen und konsequenter Verhinderung illegaler Einwanderung. Prodi möchte in Tampere die nötigen Instrumente auf Stufe Gemeinschaft und Einzelstaat bezeichnen und mit Hilfe regelmässiger Zwischenbilanzen durch die Staats- und Regierungschefs sicherstellen, dass alle angesprochenen Instanzen durch ein konvergentes Vorgehen innert fünf Jahren die gemeinsam festgelegten Ziele erreichen. Dahinter verbirgt sich auch die Hoffnung der für die Vorbereitung von Tampere zuständigen Task Force, durch Zielvorgaben und Fristsetzungen Dynamik für einen neuen Integrationsschub aufzubauen, ähnlich wie ihn die Gemeinschaft mit den Projekten «Binnenmarkt» und «Währungsunion» erlebt hatte.

Aussen- und Innensicherheit verzahnen

Noch fehlen verbindliche Aussagen, was an Konkretem die Gipfelteilnehmer in die drei von den Finnen bereitgestellten Körbe legen werden. Gesprochen wird davon, im Umgang mit den wichtigsten Herkunftsländern zu einer kohärenten Asyl- und Migrationspolitik der EU vorzustossen, die alle Politikbereiche einbeziehe. Nötig sei eine enge Verzahnung des Aussensicherheitsbereichs mit der Justiz- und der Innenpolitik. Migration und Asyl könnten nicht losgelöst von der Aussenpolitik der Mitgliedstaaten betrachtet werden. Die Gründe für die Wanderbewegungen aus den Herkunftsländern müssten stärker berücksichtigt und - präventiv - mit wirtschaftlicher, sozialer und rechtsstaatlicher Entwicklungsarbeit, aber auch mit Rückkehrhilfen für nur vorübergehend aufgenommene Flüchtlinge entschärft werden. Ausformulierte Projektpläne bestehen allerdings nicht.

In einem gemeinsamen Papier wünschen Frankreich, Deutschland und Grossbritannien zur Eindämmung der Migrationsströme aber auch eine gemeinsame Visapolitik, mehr polizeiliche Zusammenarbeit und wirksame Grenzkontrollen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung, einen intensiveren Austausch im Bereich des Dokumentenbetrugs zur Aufdeckung illegaler Aufenthalter sowie einen gemeinsamen Kampf gegen Schlepper und eine Harmonisierung der Abschiebebedingungen. Die vor allem von Deutschland propagierte Idee, bei ausserordentlichen Flüchtlingsströmen die besonders betroffenen Zielländer durch eine EU-interne Zuteilung von Aufnahmequoten zu entlasten, stösst nach wir vor auf Skepsis bis Ablehnung. Die Asylgewährung wird prinzipiell als hoheitlicher Akt des einzelnen Staates betrachtet. Als Ersatz brachten die Finnen die Idee von Ausgleichszahlungen aus dem Gemeinschaftsbudget in die Diskussion ein.

Nicht nur «Law and Order»

Im Vorfeld von Tampere äusserten vor allem Hilfsorganisationen, aber auch die Grünen in Europa den Verdacht, der in Aussicht gestellte europäische «Raum für Freiheit, Sicherheit und Recht» bringe vor allem mehr Repression im Dienste von «Law and Order». Auch Prodi plädierte für ein in seinen einzelnen Teilen ausgewogenes Paket. Der Gipfel wird wohl deshalb ein erneutes Bekenntnis zur geplanten europäischen Menschenrechts-Charta ablegen und so signalisieren, dass auch nach Meinung der Staats- und Regierungschefs neben Recht und Sicherheit die Freiheit des einzelnen Bürgers gebührend auf ihre Rechnung kommen müsse.