ap, 14.10.1999, 12:59

EU-Regierungschefs betreten Neuland

Sondergipfel in Tampere widmet sich Asylpolitik und Verbrechensbekämpfung - Gemeinsamer Rechtsraum in fünf Jahren

Tampere (AP) - Die EU-Staats- und Regierungschefs betreten ein Stück Neuland: Bei ihrem zweitägigen Sondergipfel in der finnischen Stadt Tampere, der am Freitag beginnt, wollen sie die Basis für eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Innen- und Justizpolitik legen. Im Vordergrund stehen ein gemeinsames Asylsystem, die Eindämmung der illegalen Einwanderung und die Bekämpfung des organisierten Verbrechens. EU-Justizkommissar Antonio Vitorino forderte, binnen fünf Jahren die Voraussetzungen für ein europäischen Rechtsraum zu schaffen.

Die Innen- und Justizpolitik ist ein Stiefkind der europäischen Integration. Bei den Verhandlungen zum Amsterdamer EU-Vertrag vor zwei Jahren konnten sich die EU-Mitgliedstaaten noch nicht auf eine gemeinsame Politik in diesem Bereich einigen. Der Kosovo-Konflikt und die Menge der Flüchtlinge, die infolge dessen in die Europäische Union kam, gaben indes einen neuen Impuls, sich einer gemeinsamen Asyl- und Einwanderungspolitik zuzuwenden. In seinem Einladungsbrief betonte der finnische Ministerpräsident und amtierende Ratspräsident Paavo Lipponen die «einmalige Gelegenheit», einen «Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts im nächsten Jahrtausend» zu schaffen.

Vor allem die EU-Staaten, die von der Flüchtlingswelle am stärksten betroffen sind - wie Deutschland und Österreich - setzen sich für ein Modell der Lastenteilung ein. Beim Gipfel in Tampere werden die EU-Staats- und Regierungschefs Quoten für die Aufnahme von Asylbewerbern oder die Einrichtung eines Kompensationsfonds erörtern. Angestrebt werden einheitliche Mindestregeln bei der Asylpolitik, eine gemeinsame Einwanderungspolitik und eine Verstärkung der Kontrollen an den EU-Außengrenzen. Deutschland, Frankreich und Großbritannien entwarfen ein gemeinsames Ideenpapier.

Vitorino warnte die Staats- und Regierungschefs am Mittwoch nochmals davor, den Gipfel lediglich als rhetorische Übung zu betrachten. Die EU könne einen «Mehrwert erlangen, indem sie sich den täglichen Sorgen ihrer Bürger zuwendet», sagte er. Es gehe neben Asylfragen und der Verbrechensbekämpfung auch um einen gemeinsamen Rechtsraum, etwa die gegenseitige Anerkennung von Urteilen.

Der Europol-Präsident Jürgen Storbeck erwartet von dem EU-Gipfel unter finnischer Ratspräsidentschaft ein Signal «gegen den stillen Widerstand der nationalen Bürokratien» bei der Verbrechensbekämpfung auf europäischer Ebene. In der Berliner Zeitung «Die Welt» forderte er am Donnerstag vor allem eine bessere Zusammenarbeit der Staatsanwaltschaften. Die Schaffung einer eigenen EU-Staatsanwaltschaft hielt er nicht für ausgeschlossen. Storbeck forderte auch erweiterte Kompetenzen für die europäische Polizeibehörde. Beispielsweise fehle Europol eine umfassende Zuständigkeit für Geldwäschedelikte in der EU.

Schröder für Kompromissformel beim Erweiterungsdatum

Darüber hinaus wollen sich die Staats- und Regierungschefs beim Abendessen auch mit der Erweiterung beschäftigen. Die EU-Kommission hatte am Mittwoch empfohlen, beim Gipfel in Dezember die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit sechs weiteren Kandidaten zu beschließen. Auch die Türkei solle künftig offiziell als 13. Bewerber behandelt werden. Von den sechs fortgeschrittenen Bewerbern, mit denen die EU-Kommission bereits verhandelt -- Ungarn, Polen, Tschechien, Estland, Slowenien und Zypern -, könnten die ersten bereits 2003 aufgenommen werden. Bundeskanzler Gerhard Schröder will sich in Tampere für eine Kompromissformel einsetzen, nach der zumindest die EU selbst bis 2003 aufnahmebereit sein solle. Ob die Bewerber bis dahin ihre eigenen Vorbereitungen abgeschlossen hätten und damit beitrittsfähig seien, hänge von ihnen selbst ab.