Hannoversche Allgemeine Zeitung 14.10.1999

Türkei

Die Kommission der Europäischen Union (EU) gibt ihre harte Strategie für die Osterweiterung auf und kommt den osteuropäischen Beitrittskandidaten weit entgegen. Obgleich nach wie vor keines der beitrittswilligen Länder im Osten Europas die Aufnahmebedingungen der Union erfüllt, wird der neue Präsident der Kommission, Romano Prodi, beim EU-Gipfeltreffen in Helsinki im Dezember den 15 Staats- beziehungsweise Regierungschefs empfehlen, das Zweiklassensystem im Erweiterungsprozess aufzugeben und in Helsinki das Startsignal für Beitrittsverhandlungen auch mit den verbleibenden sechs Kandidatenländern zu geben.

Bisher hat die EU nur mit Zypern, Ungarn, Polen, der Tschechischen Republik, Slowenien und Estland konkret verhandelt; die restlichen fünf östlichen Bewerber und Malta sitzen seither im Wartezimmer. Obwohl der nun in Brüssel vorgelegte "Fortschrittsbericht" über den Zustand der Kandidatenländer und die bisher erreichte Annäherung an die EU keineswegs ermutigend ist, plädiert Prodi für eine grundsätzliche Öffnung für alle östlichen Bewerber.

"Wenn wir die Kopenhagener Beitrittskriterien buchstabengetreu anwenden würden, dann würde das Beitrittsverhandlungen mit den meisten der verbleibenden Beitrittskandidaten ausschließen, weil sie den wirtschaftlichen Kriterien nicht gerecht werden", sagte der Kommissionspräsident vor dem Europäischen Parlament, dem er die Fortschrittsberichte zu den Bewerberländern vorlegte. "Das Risiko einer harten Linie gegenüber den östlichen Bewerbern wäre jedoch, dass diese Länder, die große Anstrengungen gemacht und Opfer gebracht haben, uns desillusioniert den Rücken zuwenden würden", begründete Prodi den Strategiewechsel.

Der Europäische Rat in Helsinki solle sich, so die Empfehlung Brüssels, grundsätzlich dazu bereit erklären, schon im Jahr 2000 mit den Kandidatenländern Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, die inzwischen "die Regeln der Demokratie und des Rechtsstaates, die Menschenrechte und die Minderheitenrechte respektieren". Das sei trotz aller wirtschaftlichen Mängel in der Slowakei, Lettland, Litauen, Rumänien und Bulgarien der Fall.

Die Türkei entspreche dagegen den Anforderungen noch nicht, meinen die Brüsseler Experten. Der umfangreiche Fortschrittsbericht der Kommission, der die Entwicklungen in jedem Kandidatenland genau analysiert, kommt zu einem verheerenden Urteil über die politische und wirtschaftliche Lage des kleinasiatischen Landes an der Nahtstelle zu Europa. Auf Grund politischer Überlegungen solle dem Nato-Land Türkei immerhin der "offizielle Kandidatenstatus" zugebilligt werden. Von konkreten Beitrittsverhandlungen könne aber noch nicht die Rede sein.

Auch im Fall von Bulgarien und Rumänien müssen nach Ansicht der Kommission noch Bedingungen erfüllt werden, bevor die EU an den Verhandlungstisch einladen könne. Bulgarien müsse ein konkretes Datum für die Schließung der hochgefährlichen Atomkraftwerke des Tschernobyl-Typs setzen. Außerdem müsse Sofia endlich mit den ökonomischen Reformen Ernst machen. Auch mit Rumänien könne man nicht zu verhandeln beginnen, bevor dort nicht die notwendigen Schritte in die Wege geleitet seien, um die desolate Wirtschaft des Landes wieder in Gang zu bringen. Vor allem aber, heißt es im Brüsseler Bericht, müsse sich die rumänische Regierung dringend um die Kinder des Landes kümmern, die zu Tausenden der Verwahrlosung ausgesetzt sind.

Doch auch mit den Leistungen vieler anderer Kandidatenländern sind die Brüsseler Experten nicht zufrieden. Die wirtschaftlichen Kriterien erfüllten lediglich die beiden Mittelmeerbewerber Malta und Zypern. Bei allen östlichen Kandidaten bleibt noch sehr viel zu tun. Am besten vorangekommen sind in den vergangenen Monaten die Ungarn. Sie sind die Musterknaben im Osten. Auch Polen hat sich bei der Umstellung auf die Marktwirtschaft wacker geschlagen, gefolgt von Slowenien, Estland und Tschechien. Dagegen lässt der Eifer, das Regel- und Gesetzeswerk der EU zu übernehmen und entsprechende nationale Gesetze zu erlassen, besonders in Polen und der Tschechischen Republik sehr zu wünschen übrig. Diese seien in den vergangenen Monaten besonders träge gewesen, kritisiert Brüssel.

Thomas Gack, Brüssel