ap, 12.10.1999 13:23

Sechs weitere EU-Kandidaten an der Startlinie

Europäische Union will Verhandlungen mit zweiter Liga aufnehmen - Musterschüler drücken aufs Tempo

Von AP-Korrespondentin Claudia Kemmer

Brüssel (AP) - EU-Kommissar Günter Verheugen, zuständig für die Erweiterung der Europäischen Union, lehnte sich weit aus dem Fenster. Die ersten Neulinge sollten bereits im Jahre 2004 aufgenommen werden, formulierte er seine Wunschvorstellung. Den sechs fortgeschrittenen Beitrittskandidaten, mit denen die EU seit einem Jahr verhandelt, dauert aber selbst das zu lange. Sie wollen schon 2002 dabei sein. Die Brüsseler Behörde teilt am Mittwoch die Zeugnisse für die Vorbereitungen aus. Neben der Bewertung der Musterschüler empfiehlt sie voraussichtlich, die Verhandlungen mit den sechs Nachzüglern aufzunehmen. Erwartet wird auch ein Signal an die Türkei, dass sie offiziell zum der Kreis der Bewerber gehört.

«Wir wollen den Prozess beschleunigen, so gut wir können», sagt Verheugen. Spätestens 2002 sollen seiner Meinung nach alle Vorbereitungen für die ersten Aufnahmen abgeschlossen sein: sowohl die Verhandlungen mit den Bewerbern als auch die institutionelle Reform der EU, mit der die Handlungsfähigkeit der Gemeinschaft auch bei 25 und mehr Mitgliedern gesichert werden soll. «Ich möchte gerne erreichen, dass die ersten Beitritte sich noch 2004 vollziehen können», erklärte Verheugen jüngst.

Der neue EU-Kommissionspräsident Romano Prodi forderte bei seine Amtseinführung ebenfall, dass die EU-Staats- und Regierungschefs auf ihrem Gipfel in Helsinki im Dezember ein Zieldatum für den Abschluss der Erweiterungsverhandlungen nennen, um die Bewerberstaaten in ihren Vorbereitungen nicht zu entmutigen - jedoch ohne eine konkrete Frist zu erwähnen.

In Tallinn versammelten sich am Montag die Außenminister aus Ungarn, Polen, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern, um aufs Tempo zu drücken. «Die Botschaft, die wir heute aussenden, lautet: Bitte beschleunigt den Verhandlungsprozess!», mahnte der ungarische Außenminister Janos Martonyi. Sein estnischer Kollege und Gastgeber Toomas Ilves äußerte die Vorstellung, dass die Verhandlungen bis 2001 abgeschlossen werden sollen und der Beitritt ein Jahr später erfolgt. «Wir haben die EU aufgefordert, 2002 als realistisches Zieldatum für den Beitritt neuer Länder zu akzeptieren», sagte er. Der tschechische Außenminister Jan Kavan warnte vor einem Rückgang der öffentlichen Unterstützung für den Beitritt, falls die bereits eingeleiteten schmerzhaften Reformen nicht honoriert würden.

Nachlassende Rückendeckung für das Aufnahmebegehren fürchtet die EU auch in den sechs Staaten, die derzeit in ihren Vorbereitungen noch hinterherhinken. Mit der offiziellen Aufnahme von Verhandlungen sollen Rumänien, Bulgarien, Lettland, Litauen, der Slowakei und Zypern in ihrer Motivation gestärkt werden.

«Fenster der Gelegenheit» für die Türkei

«Ein Fenster der Gelegenheit» sieht Verheugen für die Türkei, im Dezember in den Kandidatenkreis integriert zu werden. Tauwetter zwischen Ankara und dem EU-Mitglied Griechenland nach dem schweren Erdbeben in der Türkei im August hatte in Athen grundsätzliche Vorbehalte gegen eine Annäherung des Nachbarn an die EU schmelzen lassen. Der türkische Außenminister Ismail Cem war daraufhin erstmals einer Einladung zu einer EU-Ministerratssitzung gefolgt, seit die Türkei im Dezember 1997 aus dem Erweiterungsprozess ausgeschlossen worden war. Für ein Ende der Ausgrenzung der Türkei setzt sich auch Bundesaußenminister Joschka Fischer ein, der inzwischen überzeugt ist, dass Ankara sich mit neuem Elan um die Erfüllung der Beitrittskriterien wie Einhaltung der Menschenrechte, Demokratisierung und Respektierung von Minderheiten bemühen will. Bedenken gegen die neue Türkei-Strategie kommen allerdings von seiten Schwedens und des Europaparlaments, die kaum Bewegung in der Menschenrechtspolitik Ankaras erkennen.