Berliner Zeitung, 11.10.1999

EU-Kommission bilanziert Stand der Erweiterung

Beitrittswunsch der Türkei weiter umstritten

Bettina Vestring

BRÜSSEL, 10. Oktober. Einen dicken Packen Papier hat EU-Kommissar Günter Verheugen für den kommenden Mittwoch vorbereitet. Der Deutsche will seine Kollegen in der Kommission über den Stand der Beitrittskandidaten unterrichten und ihnen eine Strategie für die weiteren Beitrittsverhandlungen anempfehlen. Auf 1 000 haben die Fachbeamten seines Ressorts deswegen Fakten, Zahlen, Bewertungen und Vorschläge zusammengestellt.

Zunächst wird es um die Fortschrittsberichte gehen, die die EU-Fachleute jedes Jahr über den Stand der politischen und wirtschaftlichen Reformen in jedem Kandidatenland anfertigen. Um zehn osteuropäische Länder geht es dabei, um die beiden Mittelmeer-Inseln Zypern und Malta und erstmals auch um die Türkei. Diese 13 Einzelberichte werden deutlich machen, wie unterschiedlich der Stand der Vorbereitungen auf die EU-Mitgliedschaft ist. Unter den Ländern, mit denen die EU bereits verhandelt, liegt Zypern weit vorne. In Polen und Tschechien sind dagegen nach Brüsseler Urteil die Reformen ins Stocken gekommen. Aus den Fortschrittsberichten, sagt Verheugen, werde sich "der tatsächlich erreichte Stand klar und deutlich ergeben", und er bekräftigt: "Daran wird nichts manipuliert, ich ändere daran kein Wort."

Für größere Debatten sorgen dürfte das Strategiepapier, in dem es vor allem um drei Hauptfragen geht: Soll die EU den Ländern, mit denen sie bereits verhandelt, ein Datum für den Beitritt nennen? Mit welchen weiteren Ländern soll sie Verhandlungen aufnehmen? Und wie geht sie mit dem Beitrittswunsch der Türkei um? Entscheiden müssen letztlich die Staats- und Regierungschef der 15 EU-Länder bei ihrem Gipfel Mitte Dezember in Helsinki. Doch die EU-Kommission, die sich unter ihrem neuen Präsidenten Romano Prodi als ein politisches Gremium versteht, will mit ihren Empfehlungen Einfluss auf diesen Prozess nehmen.

Entscheidung im Jahr 2002

Von der ursprünglichen Idee, ein Beitrittsdatum für die Verhandlungspartner zu nennen, hat die Kommission inzwischen Abstand genommen. Allzu klar zeichnete sich ab, dass die meisten EU-Länder - Deutschland ausgenommen - dagegen Vorbehalte haben. Stattdessen plädiert Verheugen nun dafür, das Jahr 2002 als Entscheidungsjahr festzulegen. Bis dahin solle die EU ihre internen Reformen abgeschlossen und die finanzielle Basis für die Erweiterung gelegt haben.

Verheugen hat auch schon angedeutet, wie er sich die Entscheidung zu den sechs Ländern im "Wartesaal" vorstellt: Der Helsinki-Gipfel solle mit allen sechs Verhandlungen aufnehmen, sie aber differenzierter als bisher vorantreiben. Besser vorbereitete Länder würden dann nicht durch langsamere Mitbewerber gebremst.

In Bezug auf die Türkei hat sich Verheugen letzte Woche vor dem Europa-Parlament festgelegt: Er will dem Helsinki-Gipfel vorschlagen, der Türkei denselben Kandidaten-Status anzubieten, wie ihn die osteuropäischen EU-Bewerber genießen. Doch dieser Vorschlag stößt auf Bedenken, und zwar nicht nur im Parlament. Auch EU-Länder wie Schweden wollen zuerst eine Verbesserung der Menschenrechtssituation sehen, bevor sie die Türkei in die Kandidatenliste aufnehmen.

EU-BEITRITT: Die Kandidaten

Mit sechs Bewerbern verhandelt die EU bereits über einen Beitritt: Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, Estland und Zypern.

Weitere sechs Staaten sitzen im "Wartesaal": Litauen, Lettland, die Slowakei, Bulgarien, Rumänien und Malta.

Die Türkei drängt, ebenfalls den Kandidatenstatus zu erhalten.