Frankfurter Rundschau 8.10.1999

Die "Festung Europa" wandert ostwärts

Auf dem Sondergipfel im finnischen Tampere soll die Asylpolitik der Union weiter harmonisiert werden

Von Harald Gesterkamp

Segla Koffi (Name geändert) hält die Repression nicht mehr aus. Der Oppositionelle aus dem westafrikanischen Togo, der schon mehrfach festgenommen und einmal fast ermordet wurde, entschließt sich zur Flucht. Er will nach Europa. Vergeblich bemüht er sich in den Botschaften der westeuropäischen Länder um ein Visum. Schließlich schafft er es unbemerkt über den Umweg Osteuropa bis nach Deutschland. Hier stellt er einen Asylantrag, verweist auf die politische Verfolgung. Für die interessiert sich aber erst einmal niemand. Das einzige, was die Beamten von ihm wissen wollen, ist, über welches Land er eingereist ist. Koffi schweigt. Statt dessen berichtet er, dass Soldaten in Togo einen Anschlag auf sein Leben verübt haben. Doch wegen der Unklarheit über seinen Reiseweg halten die Beamten Koffi für unglaubwürdig und lehnen seinen Asylantrag als "offensichtlich unbegründet" ab. Schon bald sitzt Segla Koffi wieder im Flugzeug nach Lomé. Seine Zukunft in Togo ist ungewiss.

Zum Verhängnis wurde Koffi das Konzept der "sicheren Drittstaaten". Das inzwischen in allen Ländern der Europäischen Union (EU) und zahlreichen Nachbarstaaten angewandte System legt fest, dass Flüchtlinge, die durch solche Drittstaaten eingereist sind, zurückgeschickt werden, damit sie in dem Land Asyl beantragen, das die Einreise ermöglicht hat.

Hätte der Afrikaner eine andere Reiseroute gewählt und wäre beispielsweise via Marokko nach Spanien gereist, wäre ihm vermutlich das Gleiche passiert. Denn seit der Schaffung des Binnenmarktes und dem Ende der Grenzkontrollen innerhalb der EU bemühen sich die Regierungen, die Asylverfahren anzugleichen. "Grundsätzlich spricht nichts gegen eine einheitliche Asylpolitik in Europa", sagt Wolfgang Grenz, Flüchtlingsreferent bei amnesty international. "Doch vieles deutet darauf hin, dass es eine Einigung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner wird." Ähnlich sehen das Pro Asyl und die Vereinten Nationen. "Das Problem ist, dass die Regierungen in Europa oft illegale Migranten und schutzbedürftige Personen in einen Topf werfen. Doch wer verfolgt wird, muss Zugang zu einem fairen Asylverfahren haben", sagt UN-Flüchtlingskommissarin Sadako Ogata.

In der Praxis wird vor allem an den Außengrenzen der EU mit Restriktionen und Rückübernahmeabkommen die "Festung Europa" ausgebaut. Der Fantasie, mit der Flüchtlinge abgeschreckt und abgewiesen werden, scheint keine Grenze gesetzt. Das Konzept "sicherer Drittstaaten" ist nur ein Mosaikstein dabei. Seit den Abkommen von Schengen und Dublin ist innerhalb der EU nur noch ein Asylantrag möglich. Dieser wird nicht immer ausführlich geprüft: So werden manche Staaten zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt, in denen es per Definition keine politische Verfolgung gebe. Wer ohne Pass oder ohne Visum am Flughafen ankommt, kann - etwa am Frankfurter Flughafen - nur noch in den Genuss eines Schnellverfahrens kommen, darf nicht einreisen und kommt bis zur Entscheidung in Gewahrsam. Eine ausführliche Schilderung der Fluchtgründe ist kaum möglich, die Rechtsmittel sind eingeschränkt. Flüchtlinge aus Bürgerkriegssituationen oder Ländern, deren Staatsstrukturen sich auflösen, gelten - zumindest in Teilen der EU - nicht als politisch Verfolgte, weil das eine staatliche Macht voraussetze. Und wer aus einem EU-Land flüchtet, soll grundsätzlich keine Chance auf Asyl bekommen - auf diese "Lex ETA" hatten vor allem die Spanier gedrungen.

Für die Anerkennung als Flüchtling ist der richtige Fluchtweg inzwischen wichtiger als die Verfolgungsgeschichte - eine "Verkehrung des Schutzgedankens für politische Flüchtlinge", wie Heiko Kauffmann von Pro Asyl kritisiert. Der Reiseweg kann für das Überleben entscheidend sein, denn innerhalb der EU sind die Asylverfahren unterschiedlich: In Frankreich wurde 1996 fast jeder dritte Asylbewerber aus Sri Lanka anerkannt; in Deutschland waren es nur etwas mehr als acht Prozent. Einheitliche europäische Standards können helfen, solche Differenzen zu beheben. Kauffmann ist skeptisch: "In der Vergangenheit war die Asylpolitik eher ein Wettlauf der Schäbigkeiten."

Ob dieser weitergeht, werden die kommenden Monate zeigen. Dann soll der Amsterdamer Vertrag, die "Verfassung" der EU, konkretisiert werden. Am 15. und 16. Oktober werden beim EU-Gipfel im finnischen Tampere die Weichen für eine harmonisierte Asylpolitik gestellt, die in den kommenden fünf Jahren umgesetzt werden soll. In Tampere werden die Regierungschefs und Außenminister vermutlich eine politische Grundaussage über eine vereinheitliche Menschenrechts-, Entwicklungs- und Handelspolitik treffen. Beim UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR), bei Pro Asyl und bei Amnesty International hofft man, dass der Schutz von Verfolgten betont und nicht von der Abwehr illegaler Einwanderung überlagert wird. Mit entsprechenden Forderungen will man vor dem Gipfel an die Regierungschefs herantreten. Später sollen die Innen- und Justizminister die Beschlüsse umsetzen. Dabei könnten sie neben einer neuen Lastenverteilung auf alle Länder der Union rechtlich verbindliche Mindeststandards für Asylverfahren festschreiben. Solche Standards würden die nichtstaatlichen Orgnisationen begrüßen, wenn sie mit internationalem Recht in Einklang stehen.

In einigen Jahren könnte es europäische Lageberichte über Herkunftsstaaten von Flüchtlingen geben. Auch hieri befürchten Menschenrechtler eine Einigung auf dem niedrigsten Niveau. "Frankreich nimmt Rücksicht auf Algerien, Deutschland auf die Türkei und so weiter. Aber Lageberichte, die von politischer Rücksichtnahme geprägt sind, werden den Fluchtgründen von Asylsuchenden nicht gerecht", kritisiert Wolfgang Grenz. Um so wichtiger, ergänzt Heiko Kauffmann von Pro Asyl, sei es, dass Informationen nichtstaatlicher Organisationen über die Herkunftsländer der Flüchtlinge in den Lageberichten berücksichtigt würden - so wie es in Deutschland gerade zwischen Menschenrechtlern und Auswärtigem Amt vereinbart worden ist.

Weil die EU eine Politik der Abwehr vollzieht, wundert es wenig, dass die Nachbarn nachziehen. In Rückübernahmeabkommen etwa wurden Polen und die Tschechische Republik dazu verpflichtet, Flüchtlinge, die durch ihr Land nach Deutschland gereist sind, wieder aufzunehmen. Ähnliche Verträge haben Warschau und Prag umgehend mit ihren Nachbarn abgeschlossen, so dass sich das Eintrittstor nach Europa immer weiter nach Osten verschiebt. Dabei haben nicht einmal alle Nachbarländer Polens die Genfer Flüchtlingskonvention ratifiziert. In diesen Abkommen ist der Grundsatz festgelegt, dass ein Flüchtling, dem politische Verfolgung oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen, nicht in sein Heimatland abgeschoben werden darf. "Kettenabschiebungen bis ins Verfolgerland werden immer wahrscheinlicher. Schon jetzt kann es geschehen, dass ein Flüchtling von Portugal aus von Land zu Land gereicht wird, bis er die Ukraine erreicht - ohne dass sein Asylantrag einmal inhaltlich geprüft worden ist", sagt ai-Flüchtlingsexperte Wolfgang Grenz.

Aber die Asylverfahren in Mittel- und Osteuropa entsprechen nicht den westeuropäischen Standards. Im für Deutschland "sicheren Drittstaat" Tschechien gibt es eine 48-Stunden-Frist für Asylanträge nach der Einreise. Danach ist nur noch eine Duldung möglich. Um die Situation zu verbessern, hat der UNHCR die EU aufgefordert, den östlichen Nachbarn - vor allem den Beitrittskandidaten - zu helfen, bessere Asylsysteme aufzubauen.

"Wenn die Politik der Abschottung schon in Europa so funktioniert, wie sollen wir da von den ärmeren Ländern in Afrika oder Asien erwarten, dass sie internationales Flüchtlingsrecht einhalten?", fragt Grenz. Vor allem, wenn man bedenke, dass weltweit laut UNHCR-Angaben rund 35 Millionen Menschen auf der Flucht sind, von denen vergangenes Jahr weniger als 300 000 in der EU Asyl beantragten. Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen erinnerten die EU-Staats- und Regierungschefs deshalb vor dem Tampere-Gipfel daran, dass die EU sich als Wertegemeinschaft verstehe, für die das Menschenrecht auf Asyl Verpflichtung sei. Der UNHCR fordert eine großzügige Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention und eine "Rückbesinnung auf den liberalen Geist dieses Abkommens".

Der Berliner UNHCR-Vertreter Jean-Noel Wetterwald sagt, dass die meisten Flüchtlinge, die Europa erreichen, aus Ländern mit schweren Menschenrechtsverletzungen stammten. Das werde in den Debatten oft vernachlässigt.Buchtipp: Amnesty International: Für Verfolgte geschlossen? - Asylpolitik in der Europäischen Union, 140 Seiten, DM 15,-. Bestelladresse: Amnesty International, Materialversand, Postfach, 53108 Bonn, Bestellnummer: 32355.