Neue Züricher Zeitung 8.10.1999

Schlechte Zeiten für den Tourismus in der Türkei

Einschneidende Folgen von Terror und Katastrophen

Nach den Terrordrohungen zu Saisonbeginn hat das Erdbeben im August dem türkischen Tourismussektor einen weiteren harten Schlag versetzt. Massenweise wurden Reservationen annulliert, vor allem in den Bereichen mit hoher Wertschöpfung. Bis Ende Jahr wird mit einem Minus von 25% bis 30% gegenüber dem Vorjahr gerechnet.

paz. Istanbul, 7. Oktober

Obwohl die Fremdenverkehrssaison an den Stränden der türkischen Mittelmeerküste erst ausklingt, wird bereits deutlich, dass es ein unerfreuliches Jahr für die Branche war. In den ersten acht Monaten ging die Zahl der ausländischen Gäste im Vergleich mit derselben Vorjahresperiode nach Angaben des Staatlichen Instituts für Statistik um 20,6% auf rund 5 Mio. zurück. Zahlen zu den dadurch resultierenden Einnahmenverluste liegen erst für die erste Jahreshälfte vor und zeigen ein Minus von 36%. Das finanzielle Ergebnis ist deshalb so schlecht, weil der Rückgang von Gästen aus den finanzstarken europäischen OECD-Ländern, die traditionell über die Hälfte der Besucher stellen, überdurchschnittlich war. Talha Camas, der Vorsitzende des Verbands türkischer Reiseagenturen Türsab, bezeichnet die Saison 1999 als die schlechteste des Jahrzehnts mit voraussichtlich 2,5 Mio. weniger Ankünften und Mindereinnahmen von 2 Mrd. $ gegenüber dem Vorjahr. Dies entspräche einem Minus von 25% bis 30%.

Schlechter Saisonstart

Die Reservationen zu Saisonbeginn waren erfreulich, doch nachdem Mitte Februar der Führer der Kurdischen Arbeiterpartei PKK, Abdullah Öcalan, verhaftet worden war, drohten Extremisten mit Anschlägen gegen Touristen, und verschiedene Regierungen warnten vor Reisen in die Türkei. Tatsächlich kam es zu mehreren Bombenanschlägen, vor allem in Istanbul, doch waren die Opfer ausschliesslich Türken. In der von der Polizei geradezu belagerten Stadt herrschte alles andere als Ferienstimmung. Zusätzlich sorgten Kurdendemonstrationen in Westeuropa für negative Schlagzeilen. Doch bereits Ende Juli konnte der Tourismusminister davon sprechen, dass der Schock überstanden sei. Auch angefragte Reiseunternehmer, zum Beispiel die Charterfluggesellschaft Sun Air, die viele Touristen aus Deutschland in die Türkei bringt, bestätigen, dass der August wieder im budgetierten Rahmen lag.

Mit dem Erdbeben vom 17. August erfolgte jedoch ein zweiter harter Schlag. Zwar führte es nur zu geringen Schäden an der touristischen Infrastruktur, und das Epizentrum des Bebens lag weit von den Badestränden am Mittelmeer. Doch vor allem der im Herbst gewichtige Kongress- Tourismus in Istanbul, wo rund 1000 Todesopfer zu beklagen waren, brach zusammen. Reiseunternehmer sprechen von Stornierungsquoten von bis zu 100% beim Geschäfts- und «Incentive»-Tourismus. Türsab schätzt die Verluste durch nicht durchgeführte Kongresse auf 65 Mio. $; abgebrochene Reisen schlagen mit weiteren 105 Mio. $ zu Buche.

Unterschiedlich wird die Auswirkung der beiden Schocks auf den inländischen Tourismus bewertet. Der Generaldirektor von Pacha Tour, einem grossen Reiseunternehmer, sieht die türkischen Gäste als Rettung, denn sie hätten sich nicht von den PKK-Drohungen beirren lassen. Nach dem Erdbeben seien viele Istanbuler für ein paar Tage in den Süden gefahren, um den Nachbeben zu entkommen. Nach Ansicht der Incoming Managerin von VIP Turizm hingegen, einem anderen wichtigen Anbieter, hat dieser Bereich unter dem Erdbeben gelitten. Die durch das Beben geweckte Solidarität führe dazu, dass viele Leute auf Ferien verzichteten und das so gesparte Geld den Opfern zukommen liessen.

Optimismus für die Saison 2000

Die verschiedenen Beobachter versprühen Optimismus für die kommende Saison. Als Grund wird zuerst die neue Linie der PKK genannt, denn diese scheint von ihrem bewaffneten Kampf abzukommen. Ausserdem sollen Aktionen im symbolträchtigen Jahr 2000 weiterhelfen. Betreffend Erdbeben glauben die Anbieter, dass sich die Besucher nächstes Jahr davon nicht mehr beirren liessen. Doch zunächst muss die Branche eine Durststrecke bis etwa April überstehen. Viele Unternehmer geben zu, dass sie das laufende Jahr im besten Fall ausgeglichen abschliessen können und dass der Umsatz zusammengebrochen ist. Pacha Tours gibt einen Rückgang von 65% an, die Reserven seien fast aufgebraucht. Auch die türkische Volkswirtschaft kann ein Gesunden des Tourismus dringend gebrauchen, denn der Sektor erwirtschaftet 14% der Deviseneinnahmen. Da das Erdbeben eine exportorientierte Region getroffen hat, ist die Leistungsbilanz bereits unter Druck. Der Wiederaufbau und die damit verbundenen Importe werden im nächsten Jahr zu weiteren Engpässen führen: höhere Tourismuseinnahmen wären da zur Abfederung willkommen.