Die Presse (Wien), 8.10.1999

Türkei will vom Beben verwüstete Städte an sicherer Stelle aufbauen

Die Bürgermeister der dem Erdboden gleichgemachten Städte drängen auf Wiederaufbau - aber außerhalb der Bebenlinie.

Von unserem Korrespondenten IAN KEETMAN

ISTANBUL. "Adapazari ist nur noch eine Stadt der Toten." Bürgermeister Aziz Duran will seine Stadt nach dem Erdbeben nicht an der gleichen Stelle wiederaufbauen: "Wenn wir nicht nach 30 Jahren hier wieder eine Generation verlieren wollen, müssen wir den Ort verlassen und die Stadt im Norden wieder aufbauen." Als im August Adapazari zu 70 Prozent zerstört wurde, war das das dritte Mal seit 1942. Es scheint, als wolle die Natur die auf weichem Grund bei einem See und mitten auf der nordanatolischen Erdbebenspalte gelegene Stadt nicht mehr. Auch der Bürgermeister von Gölcük denkt über eine Verlegung der Stadt nach. In Gölcük sind ganze Straßenzüge zusammengebrochen, ein Stadtviertel ist mindestens zehn Meter im Meer versunken. In Izmit raten Experten zum Rückzug hinter die Bahnlinie. An den gut verankerten Geleisen der alten Bagdad-Bahn hatten sich die Erdstöße wie Wellen an einem Damm gebrochen und viel von ihrer Kraft eingebüßt. Die Stadt verlegen will Kazim Esen, Manager des Krisenstabes von Yalova, zwar nicht. An einigen Stellen soll aber das Bauen verboten werden. Viele Menschen haben Yalova verlassen. Ein Großteil derer, die geblieben sind, lebt nun in Zeltstädten und auf zwei Fähren, die im Hafen vor Anker liegen. In den umzäunten Zeltstädten herrscht rigorose Ordnung, am Eingang stehen Polizeiwachen. Ausländischen Journalisten erhalten normalerweise keine Erlaubnis, diese "Siedlungen" zu betreten.

Opposition gegen Zelte

Am Ufer haben sich etwa 400 Familien auf eigene Faust in notdürftig aus Folien und Brettern gebastelten Unterkünften niedergelassen. Der Staat will, daß sie in die Zeltstädte ziehen und gibt ihnen keine Unterstützung. Auch private Spender werden gehindert, zu helfen. Die Familie des 40jährigen Kurdi weiß dies aus eigener Erfahrung. Kurdi erzählt, daß US-Priester gekommen seien und Spielzeug für die Kinder verteilen wollten, aber von der Polizei daran gehindert wurden. Gerne hätte er Spielzeug für den fünfjährigen Sohn gehabt, der noch immer unter dem Schock des Bebens steht und bei jedem größeren Nachbeben eine Stunde zittert. Kurdi begründet seinen Widerstand gegen die Zeltstädte damit, daß dort die Zelte in Reihen auf engem Raum stehen. Auch lägen sie weiter draußen. Ein weiterer Grund ist wohl der, daß sein Haus trotz Schäden offiziell als sicher eingestuft wird. Die Untersuchung habe ein Grundschullehrer vorgenommen, der "zum Stochern mit einem Teil eines Wasserhahns ausgerüstet" gewesen sei, erzählt Kurdis Frau empört. Mit einer Unterschriftenaktion will Kurdi zweierlei erreichen: Zum einen sollen die außerhalb der Zeltstädte Logierenden auch Unterstützung erhalten, zum anderen müssen deren Häuser korrekt untersucht werden. Bisher zeigte sich der Gouverneur aber uneinsichtig. Reagiert hat indes der Chef des türkischen Roten Halbmondes: Kemal Demir trat am Donnerstag wegen massiver Kritik an der Arbeit seiner Organisation nach dem Augustbeben zurück.